Symptome lindern oder Ursachen bekämpfen?

Ich bin überfordert, schlicht und ergreifend überfordert. Immer wieder spüre ich den Impuls, mich zurückziehen, mich mit dem Thema Asylpolitik nicht mehr zu beschäftigen und mich an anderer Stelle zu engagieren. Gleichzeitig weiß ich: Das geht nicht! Es geht hier um so viel, es steht so viel auf dem Spiel, dass ich nicht einfach einen Rückzieher machen kann – auch wenn es bequemer wäre.

Seit Monaten führt Deutschland eine Debatte über Geflüchtete, während unzählige Menschen hier ankommen und darauf hoffen, hier ein sicheres und würdevolles Leben führen zu können. In dieser öffentlichen Debatte gibt es verschiedene Standpunkte – leider dominieren meistens die falschen. Es geht um die Belastung für Landkreise und Kommunen, die sich als erste um die geflüchteten Menschen kümmern müssen. Es geht um die Berechtigung, hier ein neues Leben anfangen zu dürfen oder nicht, um eine Einteilung in „gute“ und „schlechte Flüchtlinge„. Es geht um ein effizienteres Asylverfahren, um schnellere Abschiebungen, beizeiten auch um die Aufkündigung des Schengen-Abkommens und kilometerlange Grenzzäune.

Der politische Wille fehlt

Die Dominanz dieser vorgeschobenen Diskussionen macht mich wütend. Statt sich damit auseinanderzusetzen, was diese Menschen brauchen, wovor sie geflohen sind und wie eine menschenwürdige Unterbringung hierzulande schnellstmöglich organisiert werden kann, verstricken sich die Verantwortlichen in gegenseitigen Schuldzuweisungen und bürokratischen Irrwegen. Ein Land wie Deutschland hätte zweifellos die nötigen Ressourcen, um diese Menschen zu versorgen – auch wenn uns ständig etwas anderes erzählt wird. Alles was es bräuchte, wäre der politische Wille, diese Ressourcen auch einzusetzen. Davon sind wir aber leider weit entfernt.

Die Folge sind völlig überfüllte Erstaufnahmeeinrichtungen, miserable Bedingungen in den dauerhaften Unterkünften, ein Mangel an Beratungsangeboten und ärztlicher Betreuung. Die vielen Menschen, die vor Krieg, Gewalt, Unterdrückung und vor Hunger, Armut und Perspektivlosigkeit geflohen sind, erwartet hier oft nur eine weitere Odysee. Sie alle hatten gute Gründe, ihre Heimat zu verlassen. Niemand trifft leichtfertig eine solche Entscheidung, zumal die Flucht oft lebensgefährlich ist. All diese Menschen haben ein Recht auf Bewegungsfreiheit und ein gutes Leben, das sie nun endlich verwirklichen wollen.

Globale Zusammenhänge

Das ist aber nicht vorgesehen, weder in ihren Heimatländern noch bei uns. Die systematische Ausbeutung von anderen Teilen der Welt, lukrative Rüstungsexporte, die Unterstützung von Diktatoren und die Aushandlung von Freihandelsabkommen machen ein menschenwürdiges Leben dort oft unmöglich. Leider werden diese Zusammenhänge viel zu oft ausgeblendet. Die sogenannte „Flut von Flüchtlingen“, die angeblich unaufhaltsam auf uns zurollt, ist eine völlig verständliche Reaktion von Menschen, die all ihrer Rechte beraubt wurden. Es mag sein, dass die Zahl von Asylanträgen steigt und ein neues Rekordhoch erreicht. Das spielt aber schlussendlich keine Rolle – denn es handelt sich hier nicht um eine Naturkatastrophe, vor der wir uns schützen müssen, sondern um ein Symptom der kapitalistischen Weltwirtschaft. Es ist zynisch, wenn Politiker*innen fordern, die Grenzen zu schließen oder so genannte „Wirtschaftsflüchtlinge“ schneller abzuschieben. Sie blenden so nur die Konsequenzen ihres eigenen Handelns aus.

Zum Glück gibt es viele Bürger*innen, die nicht mitansehen können, wie die geflüchteten Menschen hier behandelt werden. Sie engagieren sich ehrenamtlich, um Spenden zu koordinieren, Hilsangebote zu schaffen und die Missstände aufzufangen, die die Politik wissentlich geschaffen hat. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie es in den Unterkünften inzwischen aussehen würde, wenn es diese Ehrenamtlichen nicht gäbe. Wahrscheinlich gibt es auch innerhalb der offiziellen Strukturen einige Menschen, die sich tatsächlich für das Wohl der Geflüchteten einsetzen und ihr Möglichstes versuchen, um Verbesserungen auf den Weg zu bringen. Aber alle stoßen früher oder später an Grenzen – sei es an die eigenen oder an die des Systems.

Es fehlt an allem

Auch ich bin überfordert. Überall um mich herum gibt es so viel zu tun. Ständig eröffnen neue Erstaufnahmeeinrichtungen, die diesen Namen eigentlich nicht verdienen. Zeltlager, Baumärkte, Turnhallen oder Container werden umfunktioniert zu Sammelunterkünften, in denen es weder Privatsphäre noch genügend sanitäre Anlagen gibt. Es fehlt an allem.

Natürlich sollten die Geflüchteten vor Ort die nötige Unterstützung erhalten, sei es in Form von Sachspenden, Beratungs- oder kulturellen Angeboten. Viele Menschen zeigen sich solidarisch, indem sie Sprachkurse organisieren, Kinderbetreuung anbieten oder Räume der Begegnung schaffen. Das alles ist richtig und wichtig. Aber es raubt auch jede Menge Kraft, denn es ist keine Besserung in Sicht. Die ehrenamtlichen Helfer*innen fangen das auf, was Politik und Verwaltung nicht leisten wollen. Sie tun dies nebenbei, zusätzlich und oft ohne jede Wertschätzung.

Selbstverantwortliches Leben ermöglichen

Die Geflüchteten wiederum sind auf diese Hilfe angewiesen – und das ist eine problematische Konstellation. Nicht nur, dass die große Welle der Hilfsbereitschaft mitunter einen bitteren Beigeschmack bekommt, weil es gar nicht mehr um die Belange der Geflüchteten, sondern vielmehr um das eigene gute Gewissen geht. Zudem wird den Geflüchteten so die Möglichkeit genommen, selbst zu entscheiden, was sie brauchen und sie ihr Leben gestalten möchten. Sie können nur das nehmen, was ihnen gegeben wird – und müssen dankbar dafür sein.

Wir sollten uns immer wieder vor Augen führen, dass die Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten keine Wohltat ist. Es ist vielmehr unsere Pflicht. So wie es das Recht dieser Menschen ist, in Würde zu leben – ohne von unserem Engagement abhängig zu sein. Sie sollten die nötigen Mittel zur Verfügung gestellt bekommen, um sich selbstverantwortlich hier ein neuen Leben aufzubauen.

Ursachen bekämpfen statt nur Symptome lindern

Ich schätze die viele Arbeit der Freiwilligen und bewundere, was diese Menschen auf die Beine stellen. Nichts desto trotz dürfen wir den größeren Zusammenhang nicht aus den Augen verlieren. Es reicht einfach nicht, akute Nothilfe zu leisten, weil es sich um strukturelle Probleme handelt. Wir dürfen nicht nur die Symptome lindern, wir müssen die Ursachen bekämpfen. Ich könnte nun wieder den ganz großen Schwenk machen und den bösen Kapitalismus anführen, der für alles verantwortlich ist. Das wäre auch nicht falsch und ich bin überzeugt, dass antirassistischer und antikapitalistischer Widerstand immer Hand in Hand gehen sollten. An dieser Stelle spare ich mir allerdings diesen Rundumschlag.

Gerade weil ich mir bewusst darüber bin, dass Freiwilligenarbeit in einer Unterkunft für Geflüchtete zwar sinnvoll und notwendig, gleichzeitig aber nicht ausreichend ist, ist es so schwierig, einen Weg zu finden, um persönlich wirksam zu sein. Ich lege meinen Schwerpunkt auf die politische Arbeit und hoffe, damit etwas zu erreichen. Auf der anderen Seite ist es frustrierend, zu sehen, wie täglich die Not größer wird. Zwangsläufig frage ich mich: Wie sinnvoll ist das, was du tust? Solltest du nicht den Menschen direkt vor Ort helfen anstatt abstrakte Diskussionen über Fluchtursachen und Kapitalismus zu führen? Bringt es überhaupt etwas, politischen Druck aufbauen zu wollen? Ist das nicht ein Kampf gegen Windmühlen?

Gegen Nationalismus und Rassismus

Es stimmt, die politische Arbeit ist im Moment nicht gerade ein Garant für persönliche Zufriedenheit. Im Gegenteil. Der Bundestag verabschiedet erneut eine Verschärfung des Asylrechts, populistische und rechte Parolen beherrschen die öffentliche Debatte. Fast täglich brennt irgendwo ein Gebäude, in dem Geflüchtete wohnen oder bald untergebracht werden sollen. Umso wichtiger ist es aber, die Deutungshoheit nicht denjenigen zu überlassen, die Nationalismus und Rassismus bedienen und Ängste in der Bevölkerung nutzen, um sie gegen andere Menschen aufzuhetzen. Wir müssen dagegen kämpfen, dass ein „wir“ und ein „die anderen“ konstruiert wird. Wir müssen immer wieder auf die globalen Zusammenhänge aufmerksam machen und die kruden Argumente der Politiker*innen entkräften. Die Menschen kommen nicht hierher, um unsere Sozialsysteme auszunutzen. Sie kommen, weil sie genau das gleiche wollen, wie wir alle – und das völlig zu Recht.

Trotz (oder wegen?) der politischen Arbeit möchte ich aber auch konkret tätig sein. Vielleicht auch, weil ich ab und zu ein Erfolgserlebnis brauche, um nicht die Hoffnung zu verlieren. Es gibt mehr als genug Möglichkeiten, Geflüchtete zu unterstützen – einige davon habe ich schon aufgezählt. In vielen Städten haben sich Unterstützer*innenkreise gebildet, die Hilfsangebote organisieren und koordinieren. Darüber hinaus sollten wir unbedingt unsere Solidarität zeigen, wenn die Geflüchteten selbst politisch aktiv werden, wenn sie zum Beispiel demonstrieren wollen oder gegenüber den Verantwortlichen klare Forderungen formulieren wollen. Es ist eine Sache, sich für eine andere Asylpolitik einzusetzen. Aber es hat eine ganz andere Schlagkraft, wenn die Betroffenen selbst für ihre Rechte eintreten. Die zahlreichen Proteste der Geflüchteten in Deutschland haben dies in den letzten Jahren mehr als deutlich gemacht.

Wohnraum zur Verfügung stellen

Ein weiteres wichtiges Thema ist die Bereitstellung von Wohnraum. Immer wieder wird behauptet, dass es nicht genug Wohnraum gäbe, um „all die Flüchtlinge“ unterzubringen. Dabei stehen in den meisten Städten unzählige Wohnungen und Gebäude leer. Auch hier mangelt es bisher meist am politischen Willen, diese Ressourcen zu nutzen. Auf der anderen Seite haben sich Initiativen gegründet, die privat versuchen, Wohnungen oder Zimmer an Geflüchtete zu vermitteln. Ein Beispiel ist das Portal fluechtlinge-willkommen.de. Meine WG bietet dort nun ein Zimmer für Geflüchtete an. Innerhalb der Kommune haben wir lange darüber geredet, ob und wie wir uns das vorstellen können. Ich bin froh, dass wir uns dafür entschieden haben – auch wenn es mir Unbehagen bereitet, nur einem von vielen Menschen eine angemessene Unterkunft bieten zu können. Diese Widersprüche lassen sich aber wohl vorerst nicht aufheben, und auch die Überforderung bleibt. Aber vielleicht finde ich zumindest einen Umgang damit.

2 Kommentare zu „Symptome lindern oder Ursachen bekämpfen?

  1. die flüchtlinge interessieren mama merkel einen scheiss:
    mama merkels entscheidung anfang september die grenzen für die flüchtlingsströme zu öffnen war alternativlos. deutschland ist ein rechtsstaat und jeder flüchtling der deutschen boden betritt, hat das recht einen asylantrag zu stellen. wenn zig tausende schon vor unserer haustür stehen und uns zu überrennen drohen, dann reagiert merkel, weil regieren nicht zu ihren stärken zählt. merkel hat mit dieser entscheidung unfreiwillig ein problem, das ganz europa betrifft, gelöst, und ihie deutsche führungsrolle dahingehend interpretiert, dass wir den ersten schritt zur lösung eines problems machen müssen.
    https://campogeno.wordpress.com/2015/10/17/die-fluechtlinge-interessieren-mama-merkel-einen-scheiss/

    die fetten jahre und die zeit des friedens sind vorbei
    was bringt uns die zukunft? sicher ist, “die fetten jahre” und die zeiten des friedens sind vorbei. in diesen tagen werden die entwicklungen die welt verändern, die sich schon so sehr verändert hat. der globalisierung von handel und finanzen folgt jetzt die globalisierung der folgen von kriegen und elend. die reichen wohlstandsnationen können den strom der imigranten nicht mehr, wie bisher, per abschottung ausbremsen. es kommen immer mehr.
    https://campogeno.wordpress.com/2015/10/17/die-fetten-jahre-und-die-zeit-des-friedens-sind-vorbei/

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