Wir sind der Wandel

Wenn da mal nicht jemand den richtigen Riecher hatte: Schon 2010 schrieb der amerikanische Umweltaktivist und Journalist Paul Hawken „Wir sind der Wandel“ – noch bevor überhaupt jemand von Occupy und 15M sprach. Ich bin schon nach den ersten beiden Kapiteln des Buches begeistert. Vielleicht liegt das daran, dass ich mich in seinen Thesen wiederfinde.

Er liefert mir Argumente für eine Sichtweise, die bei vielen auf Unverständnis stößt. Und er beantwortet Fragen, auf die ich bisher keine Antwort hatte. Aber mal ganz abgesehen von persönlicher Bestätigung – ich hoffe, dass seine Texte vor allem deshalb so eindringlich sind, weil er Recht hat.

„Ökologen und Biologen wissen, dass ein System aufgrund seiner Vielfalt stabil und gesund ist.“

Worte für das Unbeschreibbare

Hawken geht auf weltweite Spurensuche. Er beschreibt ein Phänomen, das eigentlich niemand beschreiben kann – und genau darin liegt der Clou. Dabei greift er vor allem auf seine eigenen Erfahrungen zurück. Der Amerikaner ist viel herumgekommen, er hat Vorträge gehalten und unzählige Menschen kennengelernt, die sich in irgendeiner Weise engagieren: für den Umweltschutz, für mehr soziale Gerechtigkeit oder gegen die negativen Auswirkungen der Globalisierung. All diese Menschen und ihre Organisationen gaben ihm zu denken. Sie sind unabhängig voneinander – und doch sind sie überall. Sind sie vielleicht die Rettung der Welt? Sind sie der benötigte Wandel, den bisher nur kaum jemand bemerkt, weil er lediglich bruchstückhaft sichtbar wird und in seiner Gänze kaum darstellbar ist?

Zweifel vergessen

Ja. Die einfache Antwort des Autors lautet: Ja. Und in dieser Feststellung liegt so viel Kraft und Optimismus, dass ich als Leser zumindest für einige Zeit all meine Zweifel vergesse. Dass ich ausblende, wie aussichtslos die ökologische Situation der Erde aussieht, wie unbeirrt weiter der wirtschaftliche Wachstum propagiert wird und wie stetig die Schere zwischen Arm und Reich immer größer wird. Hawken ist der Meinung, dass die Lösung für alle diese Probleme bereits existiert. Wir sehen sie nur noch nicht, weil wir sie nicht definieren oder gar erklären können:

„Die Bewegung passt in keine Schublade der modernen Gesellschaft, und was man nicht sieht, kann man auch nicht benennen. […] Was wir bereits wissen, beeinflusst das, was wir wahrnehmen, und was wir wahrnehmen, bestimmt das, was wir verstehen.“

Bisher hatten Bewegungen einen Anführer oder eine Ideologie. Diese Bewegung hingegen vermeidet es, Machtkonzentrationen zu bilden. Anstatt von oben irgendwelche Handlungsweisen zu diktieren und zu rechtfertigen, sucht sie Lösungen im Kleinen, stellt Fragen und befreit von alten Strukturen. Die Organisation läuft von unten nach oben. Die Bewegung ist zersplittert, uneinheitlich und individuell. Politiker und Medien legen das gerne als Schwäche aus – verständlicherweise, schließlich kennen wir es bisher nicht anders. Aber, so Hawken, genau in diesen Eigenschaften könnte die Stärke der Bewegung liegen. Für ihn ist sie so etwas wie das Immunsystem der Welt, eine kollektive Antwort auf eine akute Bedrohung.

„Ist diese Bewegung deswegen so zersplittert, weil sie nur so ihren Zweck erfüllen kann?

Neues akzeptieren

Nach meinen ersten Erfahrungen mit der Occupy-Bewegung klingen diese Ansätze für mich nicht mehr ganz so neu – und vielleicht auch nicht mehr ganz so verrückt. Mit jedem Treffen und jeder Diskussion habe ich gelernt, mich von alt hergebrachten Gewohnheiten zu lösen: keine allgemeingültigen Lösungen und Theorien zu verlangen, horizontale Strukturen zuzulassen, Vielfalt zu akzeptieren, auf Gemeinsamkeiten zu vertrauen und nicht alles zentralisieren oder ordnen zu wollen. Das war und ist ungewohnt – und nicht immer leicht. Aber es kann funktionieren, wie man sieht.

Es ist nicht umsonst

Schon vor über zwei Jahren hat Hawken diese Beobachtungen gemacht. Die Probleme sind seitdem nicht kleiner geworden – im Gegenteil. Dafür scheint die Bewegung, Hawken nennt sie übrigens die „größte soziale Bewegung in der Geschichte der Menschheit“, Tag für Tag sichtbarer zu werden. Dezentral und vernetzt treten immer mehr Menschen auf den Plan, die an und für eine Veränderung arbeiten: Occupier, Globalisierungskritiker, Montagsspaziergänger, Veganer/Tierschützer, Umweltschützer, Bildungsstreikler… allein für Würzburg könnte ich diese Liste wahrscheinlich noch lange fortführen. So oft hatte ich schon das Gefühl, dass all das Engagement umsonst ist. Schließlich steht den kleinen Erfolgen immer noch das große Ganze gegenüber, das unüberwindbar erscheint. Doch das ist es nicht.

„Die Welt scheint auf eine große Lösung zu warten, aber diese Haltung ist ein Teil des Problems, denn die besten Lösungen sind regional und systemisch.“

Um die Bewegung sichtbar zu machen, hat Paul Hawken die Internetplattform WiserEarth – Das soziale Netzwerk für Nachhaltigkeit ins Leben gerufen. Sie startet in Kürze auch in Deutschland.

Fotos: www.paulhawken.com

8 Kommentare zu „Wir sind der Wandel

  1. Interessant, darüber muss ich erstmal nachdenken, danke dafür! Was mir aber sofort dazu einfällt: Diese zersplitterte Bewegung gab es früher vielleicht nicht (oder war unbekannt) weil die Möglichkeiten der Kommunikation gar nicht existierten. Das Netz ist gerade für Nischengänger DER Ort weil es irgendwo auf der Welt immer einen gibt der genauso denkt wie man selber. Und diese Möglichkeit sich ortsunabhängig zeitgleich verbinden und informieren zu können gibt es ja noch nicht so lange, fördert aber Individualismus und eine völlig neue Art des Engagements.

    1. Ja, da hast du natürlich Recht. Hawken nennt das Internet natürlich auch – er hat ja auch nicht umsonst diese Plattform gegründet ;) Viele Organisationen/Projekte wären ohne diese Kommunikation nicht möglich. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass er überwiegend lokale Initiativen im Sinn hat, die sich vor Ort engagieren. Er erzählt z.B. auch von indigenen Völkern, die ganz eigene Strategien haben, auf die Globalisierung zu reagieren. Ist die Frage, ob es die Bewegung auch ohne diese Möglichkeiten der Kommunikation gäbe. Schließlich beziehen wir darüber ja auch oft erst die Informationen über Missstände, die wir ändern wollen. Vielleicht würde sie langsamer wachsen. Ich weiß nicht… aber was soll’s, jetzt ist es so, wie es ist ;)

    2. Meiner Ansicht nach nennst Du den Kern der Sache in den Klammern: Die Bewegung war unbekannt. Aber sie war existent. Eigentlich existiert diese „Bewegung“ völlig unabhängig von Internet und modernen Kommunikationswegen. Das Internet und die Plattform WiserEarth.org bieten heutzutage ganz einfach eine bessere Möglichkeit, sich auszutauschen, voneinander zu lernen oder sogar gemeinsam neue Projekte anzugehen. Die eigentliche Arbeit, die diese „Bewegung“ gemacht hat, geschieht vor und genauso im Internetzeitalter offline – vor Ort, wo mit welchen Projekten auch immer konkrete Ziele verfolgt werden und im besten Fall konkrete Ergebnisse erzielt werden.

      Ich setzte „Bewegung“ auch absichtlich in Anführungszeichen, da sie sich eben den klassischen Definitionen entzieht, sie „führungslos“ ist – und trotzdem so unglaublich effektiv. Sie ist die Definition von „bottom-up“ – und eben keine durch konkrete Gründung nach dem top-down-Prinzip entstandene homogene Bewegung. Und das macht sie natürlich schwer erkennbar.

      Und genau da setzt Paul Hawken an: er möchte den unzähligen Menschen, die sich engagieren, ganz einfach zeigen, dass sie nichtalleine sind – und dass da etwas vor sich geht, was vom Radar der Medien unentdeckt bleibt. Und will dies mit seinem Buch und der Internetplattform nachholen.

  2. Da wäre die Frage, was sich überhaupt als Teil dieser „Bewegung“ definieren lässt. Gehört Attac dazu, die sich bereits seit den 90er Jahren (erfolglos) für eine Finanztransaktionssteuer einsetzen? Oder die Gewerkschaften, die zwar auch irgendwie für Umweltschutz sind (wer ist das heutzutage nicht?), gleichzeitig aber auch für Wachstum (=Beschäftigung) eintreten? Gehören die Grünen auch dazu, obwohl (oder eben weil) sie mit ihrem „Green New Deal“ „nachhaltiges“ Wirtschaften fordern?
    Der Versuch, die unzähligen Organisationen und Menschen als eine Bewegung zu definieren, mag psychologisch hilfreich sein und ein bislang unbekanntes Gefühl von Stärke und Optimisums vermitteln. Andererseits gibt es hier m.E. zu viele Widerprüche, um von einer „Bewegung“ zu sprechen. „Wandel“ allein als gemeinsamer Nenner ist m.E. langfristig zu wenig.

    1. Genau um dieses Problem geht es Hawken: Er fragt, ob und warum man eine in Stein gemeißelte Definition braucht. Er möchte nicht definieren, sondern beschreiben. Denn vielleicht passt die Bewegung in keine unserer bekannten Schubladen. Vielleicht geht es nicht mehr um Organisationen, Parteien und Labels, sondern um konkrete Projekte und Menschen. Um das Größere, das dahinter steckt. Ich gebe zu, es klingt abstrakt. Aber so wie er es erklärt, ergibt es für mich Sinn.

      1. Ein (Sozial)Wissenschaftler würde jetzt sagen, dass auch für die Beschreibung eines Phämomens eine Definition der verwendeten Begriffe Voraussetzung ist. ;-) Aber egal, ich hab das Buch ja auch nicht gelesen, sondern mich auf deinen Artikel bezogen.

        Abgesehen davon kann eine optimistische Sicht (wie auch immer man die begründet) gerade bei diesen Thema natürlich nicht schaden.

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