Wir, die Nervensägen

Alles ist gut. Keine Sorge. Krise? Ja, wo ist sie denn? Die Medien werfen uns tagtäglich apokalyptische Meldungen um die Ohren – und doch scheint bei der wohl verdienten Shoppingtour durchs sommerliche Städtchen alles seine gewohnten Bahnen zu gehen: Die Einkaufstüten in der einen, die Currywurst oder das Eis in der anderen. So lässt es sich doch leben, oder? Störungen sind da unerwünscht. Stress und Trubel hat man unter der Woche schon genug, da möchte man doch zumindest in Ruhe das Wochenende genießen.

Mist. Schon wieder eine Asyldemo. Können die nicht endlich ruhig sein? Haben sie nicht schon genug Aufmerksamkeit gehabt? Langsam ist doch auch mal gut. Es nervt.

Nichts ist gut

Nein, ich muss Sie enttäuschen, sehr geehrte Damen und Herren. Es ist nicht gut. Gar nichts ist gut. Der Eindruck, den das Treiben in den deutschen Fußgängerzonen macht, täuscht. Immer noch hat sich an der deutschen Asylpolitik nichts geändert. Immer noch sterben jährlich Tausende von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer. Immer noch versucht Europa, sich abzuschotten von den vielen Menschen, die aus purer Verzweiflung ihr Land verlassen, weil sie hier auf ein besseres Leben hoffen. Sie sind genervt? Stellen Sie sich vor: Ich auch.

Nicht akzeptabel

Ich bin genervt, weil sich auf dieser Welt nichts ändert, obwohl es augenscheinlich dringend notwendig ist. Ich bin genervt, weil ich mich dafür rechtfertigen muss, auf die Straße zu gehen, um auf Missstände aufmerksam zu machen, die eine Gesellschaft wie unsere nicht akzeptieren sollte. Ich bin genervt, weil viele es nicht einmal für nötig halten, sich zu informieren – geschweige denn, sich Gedanken zu machen über das System, in dem wir leben.

Persönliche Betroffenheit

Das klingt vorwurfsvoll, ich weiß. Es ist mir durchaus bewusst, dass nicht jeder politisch aktiv sein kann und will. Und ich möchte auch die eigenen Probleme, die jeder Einzelne mit sich herumschleppt, in keiner Weise abwerten. Natürlich haben viele Menschen persönliche Sorgen, die ihnen mehr zu schaffen machen als der Bürgerkrieg in Syrien, die Massenproteste in Spanien oder Selbstmordraten in Griechenland. Das ist verständlich. Meist braucht es persönliche Betroffenheit, um aktiv zu werden.

Teil des Problems

Auf den ersten Blick mag diese Betroffenheit in Deutschland noch nicht sichtbar sein. Aber sie ist da, denn wir sind Teil des Problems. Wir haben Verantwortung für das, was auf der Welt passiert  – und das gilt nicht nur für das ferne Madrid, das gilt auch für die Gemeinschaftsunterkunft in Würzburg.

Das System ist krank

Im Gegensatz zu den Protesten in Griechenland und Spanien, bei denen die Menschen vor allem auf die Straße gehen, weil sie die verordnete Sparpolitik ihrer Regierungen am eigenen Leibe spüren und nicht einsehen, warum sie für die Fehler der Finanzwirtschaft büßen sollen, haben die Demonstrationen und Proteste, die ich hier miterlebt habe, eher aufklärenden Charakter.

Den meisten – wenn auch längst nicht allen – Menschen, mit denen ich unterwegs war, ging es gut. Und obwohl sie einen Job haben, ihre Miete bezahlen können und nicht auf Lebensmittelspenden angewiesen sind, wollen sie etwas ändern. Denn ihnen ist klar geworden: Das System ist krank. Die Symptome sind so vielfältig wie offensichtlich – sei es nun der Niedriglohnsektor, das Flüchtlingslager, der Waffenexport oder auch der ESM. Und gerade weil die Krise in der Bundesrepublik noch nicht überall spürbar ist, muss man darauf aufmerksam machen, was falsch läuft. Damit die Betroffenheit auch bei denjenigen einsetzt, die sich fragen, was das alles eigentlich mit ihnen zu tun hat.

Protest als Aufklärung

Das nervt – aber das muss es auch. Wer nicht hartnäckig immer wieder wiederholt, worum es ihm geht, wird nicht gehört, wenn seine Meinung nicht der der breiten Öffentlichkeit entspricht. Und genau deshalb braucht es auch die 100. Asyldemo in Würzburg. Deshalb braucht es die Occupy-Camps in ganz Deutschland, von denen in dieser Woche mindestens vier geräumt werden sollen. Es braucht Medien, die den Mainstream hinterfragen. Es braucht Menschen, die zeigen, wie es anders geht – wie beim Würzburger Fair Trade Festival.

Die rote Pille

Hin und wieder werde ich besorgt gefragt, ob ich mich an solchen Dingen nicht zu sehr aufreibe. Ob mir denn klar sei, dass ich die Welt nicht retten kann. Und ob ich diese Gedanken nicht auch mal abschalten könne. Zur Beruhigung: Ja, ab und zu gelingt mir das noch, wenn auch nicht besonders häufig. Manchmal wünsche selbst ich mir ein ganz entspanntes Leben, in dem ich mir um Probleme keine Gedanken mache. Einfach auf die Sonnenseite wechseln, sorglos konsumieren und die Welt Welt sein lassen. Hauptsache, für mich ist gesorgt. Aber das funktioniert nicht mehr. Ich habe die rote Pille geschluckt. Und ich bin froh darüber!

Zum Weiterlesen:

Grenzen im Umbruch (Matthias Lehnert in Jungle World, 19. Juli 2012)

Schuldenkrise: Retten ohne Ende (Stefan Homburg in der FAZ, 28. Juli 2012)

Für Athen wird es eng (Costas Lapavitsas in Der Freitag, 26. Juli 2012)

Pressekonferenz des Occupy-Camps in Frankfurt zur geplanten Räumung (25. Juli 2012)

Ein Kommentar zu „Wir, die Nervensägen

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