Die Welt dreht sich weiter

Die schlechte Nachricht kam per SMS: „Fuck! Occupy Camp in Frankfurt wird soeben geräumt! Mittels massivem Polizeiaufgebot!“ Ich saß gerade in der Straßenbahn und war auf dem Weg zu einem wichtigen Interviewtermin. Zugegebenermaßen hatte ich gerade andere Sorgen.

Ich hatte keinen Kopf, mich darüber aufzuregen, dass die Stadt Frankfurt nun offenbar doch ihren Willen durchgesetzt und mit fadenscheinigen Begründungen die endgültige Räumung des Camps durchgesetzt hatte. Erst Stunden später, als ich mir den Live-Ticker der Frankfurter Rundschau und Videos von der Räumung (siehe Links unten) ansah, konnte ich mir ernsthaft Gedanken darüber machen, was dieses Ereignis eigentlich bedeutet.

Grundlagen der Gesellschaft

Im Nachhinein ist es schon irgendwie tragisch, dass ich dazu gezwungen bin, solche Themen auf die Abendstunden zu verlegen. Schließlich spiegelt sich in der Geschichte der Occupy-Camps eine Bewegung wider, die wichtige Weichen für die Zukunft stellt. Im Grunde sollte sich jeder mit den Fragen dieses öffentlichen Protests auseinandersetzen – und das auch während der Arbeitszeit. Denn es geht hier nicht um ein Hobby irrwitziger Illusionisten, die um ein bisschen Aufmerksamkeit buhlen. Es geht hier um die Grundlagen unserer Gesellschaft. Es geht um eine Frage, die uns alle angeht: Wie wollen wir leben?

Werte für die Zukunft

Occupy hat gezeigt, dass es möglich ist, sich als normaler Bürger Gehör zu verschaffen für seine Anliegen. Sie hat weltweit in unzähligen Städten bewiesen, dass die Menschen sich nicht alles gefallen lassen, was ihnen von Politik und Wirtschaft serviert wird. Sparprogramme, Demokratieabbau, Lobbyismus, wachsende Ungleichheit und vor allem die Herrschaft einiger weniger – viele von uns haben gemerkt, dass es so nicht weiter gehen kann. Ich kann und will mir keine Zukunft vorstellen, in der sich die Welt einfach unverändert weiter dreht. Ich will mitreden und dafür kämpfen, dass in der Gesellschaft wieder andere Werte an Bedeutung gewinnen: Gerechtigkeit, Solidarität und demokratische Mitbestimmung.

Es hat sich nichts geändert

Schöne Worte, oder? Man kann zu Recht die Frage stellen, wie wir das anstellen wollen. Wie sollen wir das große Ganze ändern? Seit 2008 folgt eine Krise auf die nächste. Fast jeden Tag erreichen uns neue Katastrophenmeldungen aus der EU. Milliarden von Euro werden in zig Rettungsprogramme gesteckt, von denen niemand weiß, wohin das Geld eigentlich fließt (auf jeden Fall nicht zu den spanischen und griechischen Bürgern). Es scheint, als hätte sich nichts geändert. Die Banker kassieren weiterhin ihre Boni, die Deutsche Bank spekuliert mit Nahrungsmitteln, in Afrika droht die nächste Hungersnot. Haben wir überhaupt eine Chance?

Blockupy wirkt nach

Es gibt Momente, in denen ich daran zweifle – und das nicht zu knapp. Die Blockupy-Aktionstage in Frankfurt (siehe auch Blog-Artikel „So sieht Demokratie aus„) sind mir noch in lebhafter Erinnerung. Kein Wunder, sie waren spektakulär. Sie haben uns motiviert, uns nicht klein kriegen zu lassen von Politik und Polizei, sondern auf die Straße zu gehen und unserer Empörung Ausdruck zu verleihen. Mit einer Menge blauer Flecken und viel zu wenig Schlaf saß ich danach im Zug. Erschöpft, aber glücklich. Empört, aber hoffnungsvoll. Das ist jetzt aber schon fast drei Monate her. Was ist übrig geblieben?

Der Alltag kehrt zurück

Nicht viel. Der Alltag ist eingekehrt. Nach Blockupy verliefen die Würzburger Asambleas langsam im Sande. Die Leute wurden weniger, alle – und ich schließe mich da gar nicht aus – hatten plötzlich ihre eigene Probleme. Die Aktionstage und die voran gegangene Mobilisierung hatten Kräfte gezehrt, die erst wieder aufgefüllt werden mussten. Bei all dem Protest sind andere Dinge oft mal auf der Strecke geblieben. Aber das Leben besteht eben (leider) nicht nur aus Occupy.

Solidarität mit Spaniern

Vor drei Wochen war ich wieder in Frankfurt. Wir waren zu zweit. Einsam und verlassen standen wir vor dem spanischen Generalkonsulat, weil wir gehofft hatten, es finden sich einige Mitstreiter, die ihre Solidarität mit den spanischen Minenarbeiter ausdrücken wollen, die an diesem Tag eine große Demonstration in Madrid angekündigt hatten. Wir waren zwar solidarisch – aber interessiert hat es niemanden. Nun gut, passiert. Einmal in Frankfurt schauten wir natürlich auch im Camp vorbei. Alex, der die Schichten am Info-Zelt damals mehr oder weniger alleine organisierte, war froh über unseren Besuch und brachte uns auf den neusten Stand. Dass das Camp der Stadt ein Dorn im Auge war? Schon lange kein Geheimnis mehr. Es ging um mangelnde Hygiene und mangelnde Ernsthaftigkeit. Die Stadt warf Occupy vor, dass das Camp seinen eigentlichen politischen Zweck verloren hätte und stattdessen Obdachlosen und Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf sichert. (Als ob das keine politische Relevanz hätte…)

Optimismus trotz Räumung

Das Camp hatte sich verändert keine Frage. Nur noch zehn Leute schliefen regelmäßig in ihren Zelten, erzählte Alex. Eine Küche gab es nicht mehr. Trotzdem war der Stundenplan am Eingang des Camps voll: die einzelnen AGs arbeiteten weiterhin an ihren Themen. Und auch am Info-Stand herrschte immer noch reger Betrieb. Das Interesse der Journalisten war wieder aufgeflammt, nachdem bekannt wurde, dass die Stadt eine Räumung vorbereitete. Alex war optimistisch. Er war gerade nach Frankfurt gezogen, hatte Wohnung und Job in Karlsruhe gekündigt. Irgendwie bewunderte ich ihn für diese Entscheidung. Ich war schon immer ein Fan von Konsequenz – auch wenn manche sein Verhalten wohl eher als naiv und dumm bezeichnen würden. Aber ist es so dumm, sein Leben in den Dienst unserer Zukunft zu stellen? Ist es so naiv, nicht nur auf Veränderungen zu warten, sondern sie aktiv voranzutreiben?

Neue Ansatzpunkte

Das bringt mich zurück nach Würzburg – und meinen Prioritäten. Occupy findet in meiner Freizeit statt, wenn überhaupt. Vielleicht wird sich das in Zukunft ändern. Mein Volontariat ist vorbei, im Oktober beginnt die Uni. Das klingt zumindest ansatzweise nach Freiheit und Flexibilität. Den ganzen September werde ich dazu nutzen, durch Europa zu reisen – übrigens tatsächlich ganz ohne Flugzeug (siehe auch Blog-Artikel „Nobody’s Perfect„). Auf meiner Route liegen ein paar französische Städte, Barcelona und London. Ich bin gespannt, wer oder was mir auf dieser Reise begegnet. Vielleicht gibt sie mir neue Impulse, neue Ansatzpunkte. Denn ich muss zugeben: Die fehlen mir zurzeit.

Unsichtbar ist nicht gestorben

Seit Blockupy ist die Bewegung für mich in den Hintergrund getreten. Ich bin mir immer noch ihrer Bedeutung bewusst, keine Frage. Aber so wichtig sie mir ist, umso unklarer ist mir im Moment, welchen konkreten Beitrag ich leisten kann. Die Camps (nicht nur in Frankfurt) sind als zentrale Anlauf- und Koordinierungsstellen von der Bildfläche verschwunden. Aber – und ich bin froh, dass viele Kommentatoren das ähnlich sehen – mit den Camps verschwindet nicht die Idee von Occupy. Wie schon Friedrich Dürrenmatt in „Die Physiker“ schrieb, wenn auch mit etwas anderer Intention: „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.“

Eine Lösung ist nicht in Sicht

Occupy ist mehr als eine „Fußnote der Geschichte“, schreibt auch Wolfgang Heininger im Freitag. Und er hat Recht: Die Probleme, die die Menschen auf die Straße getrieben haben, existieren nach wie vor. Eine Lösung ist noch lange nicht in Sicht. Und so wird es früher oder später eine Alternative brauchen. In Deutschland mag dieser Druck zur Veränderung noch nicht so spürbar sein wie in Griechenland oder in Spanien. Aber die Krise wird auch uns erreichen – und dann hoffentlich die Massen mobilisieren. Gründe gibt es genug.

Politische Arbeit läuft

Die Planungen für weitere öffentlichkeitswirksame Aktionen in Deutschland laufen. In Frankfurt steht jetzt statt des Camps eine Mahnwache mit Infostand. Und die politische Arbeit geht weiter. Natürlich waren die Zelte ein wichtiges Symbol. Mit ihnen nahmen die Aktivisten den öffentlichen Raum ein, sie zogen Blicke auf sich, sie zogen Sympathisanten und Gegner an. Doch die inhaltliche Diskussion hatte sich schon lange vor der Räumung verlagert, wie Felix Helbig in der Frankfurter Rundschau schreibt.

„Es ist nun einmal nicht revolutionär, darüber zu streiten, wer den Abwasch macht, in welches Zelt der Manni aus Butzbach ziehen darf und ob die Stadtverwaltung nun den Müll auf eigene Kosten abtransportieren muss oder nicht. Es kommt vielmehr darauf an, sich eigene Gedanken zu machen, sie zu formulieren, sie zu diskutieren und ihre Umsetzung einzufordern. Die meisten Aktivisten der Occupy-Bewegung haben schon nach einigen Wochen bemerkt, dass es dafür geeignetere Formate gibt, als ein Zeltdorf aus Holzpaletten. Das Zeltdorf blieb trotzdem, was schon alleine deshalb wichtig war, um auszuloten, wie weit es eigentlich noch her ist mit der Versammlungsfreiheit in der deutschen Demokratie.“

Und weiter:

„Die Bewegung hat sich jenseits des Camps längst in neuen Zusammenhängen eingerichtet. In Frankfurt haben Aktivisten die European Occupy Central Bank gegründet und die Initiative Occupy Money. In beiden Gruppen haben erneut Kindergärtnerinnen und Professoren, Studenten und Fondsmanager zusammengefunden, aber sie streiten nicht über den Abwasch. Occupy Money arbeitet derzeit an einem „Moneyfest“ für eine neue Geldordnung. Den Aktivisten gelingt, was im Camp trotz aller Versuche nie wirklich möglich war: ein weitestgehend herrschaftsfreier Diskurs über das, was getan werden muss. Und sie halten Diskussionsveranstaltungen ab, die nicht unterbrochen werden müssen, weil der Wind das Küchenzelt umgefegt hat.“

Hin und wieder plagt mich das schlechte Gewissen, nicht mehr beizutragen zu dieser Bewegung. Andererseits kommt es vielleicht auch darauf an, was man als Beitrag definiert. Schließlich besteht politische Arbeit nicht nur aus Plakaten und Demonstrationen. Auch Meinungsbildung, Information, Austausch und Diskussion gehören dazu – und diesbezüglich kann ich mich über einen Mangel wahrlich nicht beklagen. Inzwischen sind die Asambleas in Würzburg wieder gestartet, im August fahren wir zu einem Bürgertreffen nach Berlin. Und für mich steht nicht nur die vierwöchige Reise, sondern auch ein Umzug an. Die Welt dreht sich tatsächlich weiter – aber in Richtung Veränderung.

Videos der Occupy-Räumung:

Occupy Camp Frankfurt

Hessischer Rundfunk (1)

Hessischer Rundfunk (2)

3 Kommentare zu „Die Welt dreht sich weiter

  1. Du schreibst das toll und bringst es gut auf den Punkt… man, wenn mich das ganze nicht so verdammt traurig machen würde.

  2. “ Schließlich spiegelt sich in der Geschichte der Occupy-Camps eine Bewegung wider, die wichtige Weichen für die Zukunft stellt. “

    Muahaha…danke für den Lacher am Nachmittag.

    Btw: Ernährst du dich eigentlich noch zu 100% pflanzlich ? Oder ist das auch schon wieder vorbei ?

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