Eigentlich wusste ich, was mich erwartet. Asambleas sind inzwischen ja kein Neuland mehr für mich: Handzeichen, Rednerliste, Moderator und Protokollant – ja, das sagt mir alles was. Trotzdem hatte ich ein mulmiges Gefühl, als ich mich nach meinem Umzug zurück in den Ruhrpott zum ersten Mal auf den Weg zum Treffen von Occupy Dortmund machte. Welchen Menschen würde ich dort wohl begegnen? Wie reagieren sie auf neue Gesichter wie meines? Werde ich mich wohl fühlen? Und werde ich mich überhaupt irgendetwas beitragen können?
Empörung als Gemeinsamkeit
Meine Sorgen waren unberechtigt. Mal wieder. Meine erste Asamblea in Dortmund dauerte vier Stunden. Inoffiziell waren sogar fünf Stunden, weil wir im Anschluss noch gemeinsam auf Nahrungssuche gingen. Natürlich kannte ich keinen der Dortmunder Aktivisten. Trotzdem fühlte ich mich nicht fremd. Mir wurde (wie schon so oft) schnell klar, dass ich mit diesen Menschen wahrscheinlich mehr gemeinsam habe, als man auf den ersten Blick denken könnte. Für uns alle funktioniert das System in seiner jetzigen Form nicht mehr. Manche wollen es abschaffen, manche wollen es nur verändern. Aber eins steht außer Frage: Die vorherrschenden Ungerechtigkeiten wollen wir nicht länger akzeptieren. Ganz egal, wer mir in einer Asamblea gegenübersitzt – die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass derjenige ähnlich empört ist wie ich und auf seine eigene Weise für Veränderung eintritt.
Bürgertreffen vor dem Bundestag
An diesem Wochenende hatte ich das Glück, gleich zwei Mal eine solch positive Erfahrung zu machen. Einen Tag vor der Dortmunder Asamblea fand vor dem Bundestag in Berlin ein Bürgertreffen (zusammen mit einer Anti-ESM-Kundgebung) statt, organisiert von einem engagierten Würzburger. Unter dem Motto „Hör zu und red mit“ konnte jeder ans Mikro treten und seine Meinung kundtun – sei es zum ESM, zum Fiskalpakt, zur Finanzkrise, zu Protestideen oder zu persönlichen Problemen. Der Veranstaltung waren bewusst keine inhaltlichen Grenzen gesetzt. Die Bürger sollten zu Wort kommen – in einer Demokratie eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die in letzter Zeit allerdings viel zu kurz kommt.
Auch Touristen sind mündige Bürger
Die Zahl der Besucher hielt sich zwar ein wenig in Grenzen – zumindest wenn man bedenkt, wie viele Menschen im Rahmen des „Tag der offenen Tür der Bundesregierung“ durch das Regierungsviertel streiften. Leider folgten sie offenbar lieber dem inszenierten Programm der Politiker, als selbst eines auf die Beine zu stellen. Bei einer neuen Auflage des Bürgertreffens (vielleicht lässt sich ein solches ja als regelmäßiges Forum etablieren) wäre es deshalb wichtig, das Interesse der vielen (noch) Unbeteiligen zu wecken und ihnen zu zeigen, dass sie sich im Regierungsviertel nicht nur wie Besucher und Touristen bewegen sollten, sondern als mündige Bürger.
Viel Redebedarf
Dennoch war das Bürgertreffen ein Erfolg. Viele nutzten die Gelegenheit, ihrer Empörung über die aktuellen Entwicklungen Luft zu machen sowie Wünsche und Forderungen für die Zukunft zu formulieren. Nicht einmal stand das Mikro allein auf der Bühne (Stream von Castor TV). Der Redebedarf schien also groß zu sein – ebenso wie die Wut. Wut, dass sich nichts ändert. Wut, dass viele ihre Augen nicht öffnen wollen. Wut, dass das System auf Biegen und Brechen aufrechterhalten wird (und dabei sogar noch stärker zu werden scheint), obwohl es augenscheinlich nicht mehr funktioniert. Wut, dass das Gemeinwohl keine Bedeutung mehr hat.
Chance zur Vernetzung
Manchmal fiel es mir schwer, vor der Bühne sitzen zu bleiben und zuzuhören. Besonders nach der Rede von Erik Buhn (Occupy Frankfurt) fühlte ich mich unglaublich energie-geladen und motiviert. Leider gab es keine Möglichkeit, diese Energie einzusetzen. Das Bürgertreffen war als offenes Forum geplant – ein guter Ansatz. Wer neue Leute kennen lernen und sich für zukünftige Aktionen mit ihnen vernetzen wollte, wurde hier auf jeden Fall fündig. Nur sorgen Mikro und Bühne zwangsläufig dafür, dass das Publikum sich passiv verhält. Aktive Beteiligungsmöglichkeiten fehlten – vielleicht ein mögliches Steigerungspotenzial für das nächste Mal. Der anschließende Marsch zum Neptunbrunnen (mit kurzem Abstecher in ein Info-Büro der Europäischen Union und kleiner „Geld“-Performance auf dem Bürgersteig) und die dortige Asamblea allerdings schufen spontan Abhilfe.
Möglichkeiten auf dem Silbertablett
Und schon einen Tag später saß ich schon wieder auf einer ganz anderen Wiese und verfolgte gespannt die Planungen von Occupy Dortmund. Es ging um geplante Aktionstage im September und Oktober, deren inhaltliche Gestaltung und mögliche Formen des Protests. Fehlten mir noch vor einiger Zeit die Ansatzpunkte und die konkreten Möglichkeiten, die Occupy-Bewegung weiter zu unterstützen, wurden sie mir in Berlin und Dortmund auf dem Silbertablett präsentiert. Wer suchet, der findet…
Occupy ist überall
Das Wochenende hat mir wieder vor Augen geführt: Wir sind viele (wenn auch noch nicht genug) und wir sind überall. Es ist egal, in welche Gegend es mich verschlägt – ich werde Menschen finden, denen es ähnlich geht wie mir. Occupy kann eine Anlaufstelle sein für diejenigen, die sich eine grundlegende Veränderung in unserer Gesellschaft wünschen. Sei es idealerweise als Camp, aber auch als regelmäßiges Treffen. Dass die Dortmunder mit einer veganen Gruppe zusammenarbeiten und darüber nachdenken, einen Gemeinschaftsgarten ins Leben zu rufen, kam mir zunächst vor wie ein glücklicher Zufall – schließlich sind das Themen, die auch mir besonders am Herzen liegen. Auf den zweiten Blick aber überraschten mich diese Gemeinsamkeiten nicht.
Die Bewegung lebt
Wer behauptet, Occupy sei tot, liegt falsch. Der Veranstaltungskalender füllt sich wieder, die Asambleas tage und die Gruppen vernetzen sich in ganz Deutschland (so ein Umzug kann da sogar ganz hilfreich sein…). Und vor allem: Die Menschen diskutieren.
Menschlichkeits- statt Finanzkrise?
Die Dortmunder Asamblea dreht sich am Ende um die Frage, wo die eigentliche Ursache für die Krise liegt. Ist sie tatsächlich (nur) eine Folge des kapitalistischen Systems? Oder müssen wir tiefer bohren und uns fragen, was eigentlich mit uns Menschen passiert ist, dass wir ein solches System erst schaffen? Wir konnten uns mehr oder weniger darauf einigen, dass sich beide Ansätze nicht klar voneinander trennen lassen und sich gegenseitig bedingen. Es braucht Veränderungen sowohl auf der systemischen als auch auf der persönlichen Ebene. Die Grundfrage aber sollte lauten: Welche ursprünglichen und natürlichen Bedürfnisse haben wir und wie können wir uns darauf zurückbesinnen, um darauf aufbauend wieder ein Gesellschaftskonzept zu schaffen, dass Gerechtigkeit und Frieden sichert? Nur den Kapitalismus abschaffen zu wollen und zu hoffen, dass sich dann alles zum Guten wendet, ist wohl ein wenig kurzsichtig. „Wir haben keine Finanzkrise, sondern eine Menschlichkeitskrise“, sagte einer der Dortmunder. Interessanter Gedanke. Interessante Ideen. Interessante Leute. Ich bin gespannt, wie es weiter geht…
Einfach Spitze, dass du da bist, Regine!!!
Vielen Dank, Wigbert! Du solltest aber auch nicht fehlen ;) lg aus NRW