Schon das Titelbild der aktuellen Freitag-Ausgabe hat mich abgeschreckt. „Versuch’s mal mit Gewalt“ steht in großen Buchstaben neben einem einsamen Aktivisten, der in seinem Zelt hockt und mit seiner rechten Hand das Peace-Zeichen in Richtung Kamera streckt. Und weiter: „Ein Jahr Occupy: Die Bewegung ist gescheitert. Muss sie radikaler werden?“
Ein bis zwei Tage brauchte ich, um mich an den Artikel heranzuwagen. Vielleicht war es die Angst, dass meine geliebte Utopie von einer anderen Welt zerbrechen könnte. Ich wollte von der Autorin nicht auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden. Schließlich brauche ich meine Energie noch – spätestens beim nächsten Global Action Day am 13. Oktober.
Außer Gesten nichts gewesen?
Der erste Satz des Artikels machte es mir nicht einfacher: „Hat Occupy etwas in der Politik und der Wirtschaft verändert? Die kurze Antwort ist: nein.“ Eigentlich hatte ich schon keine Lust mehr, weiter zu lesen. Aber tatsächlich verlor der Artikel seinen Schrecken mit jedem folgenden Absatz. Zwar steckte der ein oder andere nachvollziehbare und auch wertvolle Gedanke darin, aber ich glaube, die meisten Menschen, die jemals ernsthaft mit Occupy in Berührung gekommen sind, können beruhigt den Kopf schütteln, wenn sie die Überschrift „Außer Gesten nichts gewesen“ lesen.
Kein messbarer Erfolg
Occupy wird ein Jahr alt. Natürlich ist das der ideale Zeitpunkt, um nach Erfolgen Bewegung zu fragen. Wobei ich schon mit diesem Ansatz meine Probleme habe, weil er den Kerngedanken der kapitalistischen Leistungsgesellschaft aufgreift und der Bewegung ihren Sinn abspricht, weil kein Erfolg in Zahlen ausgedrückt werden kann. Wenn die Autorin Andrea Hanna Hünniger die Bewegung im Einstieg sofort als gescheitert darstellt, frage ich mich: Was hat sie erwartet? Sie wartet auf eine Veränderung: „Eigentlich sollte Occupy eine Bewegung werden, um die Welt zu verändern.“ Aber wie stellt sie sich eine solche vor? Woran möchte sie den Erfolg einer Bewegung wie Occupy – die es in ihrer hierarchie- und führerlosen Form so noch nicht gab – messen? Meiner Meinung nach macht sie es sich mit ihrer kurzen und lapidaren Antwort zu leicht.
Revolution unter Zeitdruck
Vor kurzem las ich einen ZEIT-Artikel über die Beschleunigung der Politik und den daraus resultierenden Schaden für die Demokratie. Unweigerlich musste ich dieses Phänomen auch auf die angestrebte – ja nennen wir das Kind ruhig beim Namen – Revolution von Occupy übertragen. Der Zeitdruck, der die Politik (insbesondere in der Krise) zu Entscheidungen drängt und der von der minutiösen Berichterstattung im Netz noch verstärkt wird, macht sich auch in anderen Bereichen der Gesellschaft bemerkbar. Auch die Occupy-Bewegung steht vor der Herausforderung, in wenigen Monaten ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem auf den Kopf zu stellen, das sich in vielen Jahrzehnten etabliert hat. Schnell soll es gehen, ist doch klar. Dass die Bewegung Zeit braucht, sich an sich selbst zu gewöhnen, die eigenen Ansprüche zu formulieren und umzusetzen, sich global und lokal zu formen und die möglichen Wege des Protestes auszuloten, wird dabei vergessen.
365 Tage sind zu wenig
Ich kann es durchaus nachvollziehen, wenn Menschen – seien es Aktivisten oder nicht – verzweifelt den Kopf schütteln, wenn sie sehen, dass sich im Großen und Ganzen nicht viel geändert hat. Die Eurokrise geht weiter, in Afrika droht (mal wieder) eine Hungerkrise, die Umwelt wird ausgebeutet, Waffen in Krisenregionen exportiert und tagtäglich sterben Tausende von Menschen. Scheiße! Aber kann man angesichts dessen von einer Bewegung verlangen, dass sie in einem Jahr eine neue Weltordnung auf die Beine stellt? 12 Monate, 365 Tage – für eine Revolution ist das verdammt knapp.
Der Anfang vom Ende des Systems
Dennoch hat es gereicht, um eine Menge empörte Menschen auf die Straßen zu treiben. Es hat gereicht, um neue Themen auf die Tagesordnung zu setzen, die bisher keine Beachtung fanden. Es hat gereicht, um unzählige Projekte auf den Weg zu bringen, die an einer besseren Welt arbeiten. Occupy ist nicht gescheitert. Die Bewegung ist der Anfang vom Ende des bisherigen Systems. Dieses Ende sähe ich angesichts der zum Himmel schreienden Ungerechtigkeiten zwar auch lieber heute als morgen, aber eine so grundlegende Veränderung braucht nun mal ihre Zeit.
Revolution als Prozess des Lernens
Florian Hauschild greift in seinem Artikel „Ist das System relevant?“ die Definition des Revolutionsbegriffs von Rudi Dutschke auf. Ziel ist demnach nicht, alte Eliten einfach durch neue zu ersetzen, sondern eine grundlegende Veränderung hin zu einer demokratischen, sich selbst verwaltenden Gesellschaft. Er begreift Revolution dabei nicht als etwas punktuelles, sondern eher als einen „langfristigen Prozess der Bewusstwerden“, des Lernens und des Lehrens. Dieser Prozess hat begonnen, wir sind mittendrin – und Occupy hat dazu einen nicht unerheblichen Teil beigetragen. Nur kann man diesen Erfolg eben nicht messen.
Die üblichen Parameter versagen
Stattdessen geht die Freitag-Autorin von den üblichen Parametern aus und kritisiert, dass die Bewegung der Medienöffentlichkeit nicht die nötigen Bilder liefert, um langfristig Aufmerksamkeit zu erzeugen. Sie wirft vor allem den deutschen Aktivisten vor, zu zögerlich gewesen zu sein und den Protest lieber anderen zu überlassen:
„Die Proteste in Deutschland verliefen so friedlich, dass man an der Dringlichkeit des Themas zweifeln konnte. […] Ohne Eskalation verschwindet ein Protest in der Bedeutungslosigkeit und vor allem ohne Spuren.“
Ich muss an die Blockupy-Akionstage zurückdenken und daran, wie die Polizei auf dem Frankfurter Paulsplatz in die friedlich demonstrierende Menge gestürmt ist, wie sie uns durch die gesamte Innenstadt verfolgt hat und die Aktivisten aus dem Camp und von der Straße weggetragen hat. Sind diese Bilder schon wieder in Vergessenheit geraten? Und wo bleibt der Blick ins Ausland, wo die Occupy-Bewegung viel häufiger mit staatlicher Gewalt zu kämpfen hatte? Angesichts dessen finde ich es unverantwortlich, eine Eskalation zu fordern, um medienwirksame Bilder zu erzeugen. Wie viele Verletzte muss es geben, damit eine Bewegung als erfolgreich gilt?
Die Mittelschicht der Vororte
Occupy hat es sich zum Ziel gesetzt, möglichst viele Menschen zu erreichen und wirklich jedem eine Möglichkeit zu geben, sich einzubringen. Legt die Bewegung aber ihren Fokus auf Gewalt, wird sie genau die Menschen abschrecken, die unzufrieden mit dem System sind und sich eine Veränderung wünschen, sich aber bisher mit Protestbewegungen nicht identifizieren konnten. Die Autorin wirft der Bewegung vor, nicht zu versuchen, diejenigen an Bord zu holen, die von Krisen am ehesten bedroht sind, nämlich die „Mittelschicht der Vororte (nicht abbezahltes Haus, nicht abbezahltes Auto)“. Mit dem Baseballschläger wird man diese Menschen aber sicher nicht überzeugen.
Kooperation statt Konkurrenz
Auch die Forderung nach einem neuen, radikaleren Freund-/Feinschema, nach Kategorien für unsere Unzufriedenheit passt nicht zu den grundlegenden Ideen der Occupy-Bewegung. Es geht ja gerade darum, diese Kategorien abzubauen. An die Stelle des ständigen Konkurrenzdenkens soll Kooperation treten. Es soll keine Fronten mehr geben, sondern Solidarität. Natürlich ist diese Vorstellung von Gesellschaft noch eine Utopie. Aber die Frage nach Utopie ist keine Frage nach Gewalt, wie die Autorin schreibt. Und Occupy lehnt die Frage nach Gewalt auch nicht ab. Die Bewegung versucht nur, eine andere Antwort darauf zu finden.
Eine Antwort auf die Frage nach Gewalt
Diese Antwort wird meiner Meinung nach hier gut skizziert. Autor Florian Hauschild setzt auf Wortgewalt und zivilen Ungehorsam, denn das System funktioniert nur, weil die Menschen daran glaubten, dass es funktioniert. Deshalb sei es unsere Aufgabe aufzuklären und somit das nicht gerechtfertigte Vertrauen in das System zu zerstören:
„Der Weg zur konsensorientierten Gesellschaft führt zweifellos über den argumentativen Konflikt. Diesen haben wir nun zu führen. Stück für Stück verüben wir somit ideelle Attentate auf die bestehenden Wirklichkeiten in den Köpfen manipulierter, systemtreuer Mitmenschen. Wir tun dies genau solange, bis diese Menschen ebenfalls bereit sind anzuerkennen, dass es so nicht weitergeht und sich selbst daran beteiligen Fragen zu stellen. Diese Fragen setzen dann einen demokratischen Prozess der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung in Gang.“
Occupy hält es im Gegensatz zur Freitag-Autorin sehr wohl für möglich, den Lauf der Dinge zu stören. Die Aktivisten bauen nicht einfach ihre Zelte ab und geben sich der harten Realität geschlagen. Der Protest ist nicht gescheitert und er wird weiter gehen – friedlich und argumentativ.
„Aber die Realität hat uns so gut erzogen, dass wir die Fähigkeit zu träumen blockieren und einer Idee überhaupt etwas zutrauen. […] Niemand traut sich die Möglichkeit einer offensichtlichen Lösung zu.“
Ich hoffe, dass wir noch träumen können. Dass wir Lösungen finden können und das Selbstvertrauen haben, diese umzusetzen und dem System entgegenzustellen. Versuch’s mal anders!
Zum Anschauen:
Occupy doch nicht tot? (Interview mit Erik Buhn von Occupy Frankfurt)
Super Artikel!
Genau das ist der Weg!
Ohne Gewalt!
Wie du schon richtig beschrieben hast, würde das nur nach hinten los gehen.
Ein toller Vortrag zum Thema (ohne Gewalt kämpfen) auch hier: http://www.ted.com/talks/scilla_elworthy_fighting_with_non_violence.html
Sehr inspirierend, wie ich finde.
…nagut, der Vortrag passt jetzt nicht 100%ig zum Thema Gewalt. Ich finde aber, dass wenn die von den Männern im Hintergrund gesteuerte Exekutive die friedliche Demonstration niedermachen will (natürlich mit Gewalt), das Video ab 4:32min ein tolles Beispiel abgibt, wie man dieser Gewalt entgegnen kann.
Darüber, dass Gewalt kaum eine Lösung sein kann, dürfte ja Einigkeit herrschen. Ob man dagegen mit Sitzblockaden und Camps die Welt verändern kann? Wohl nicht direkt, aber man kann auf seine Ansichten aufmerksam machen, Verbündete gewinnen (oder eben auch Gegner).
Für mich, von Außen betrachtet, scheint sich die Occupy-Bewegung früher oder später der gleichen Herausforderung stellen zu müssen, wie vor einigen Jahrzehnten die 68er: Der Marsch durch die Institutionen, um eben jene zu verändern. (Bleibt zu hoffen, dass sie dabei weniger ihrer Ideale aufgeben, als es die 68er getan haben.)