Meistens erntete ich nur ein mildes Lächeln für meine Sorge. „Was, wenn die Revolution beginnt – und ich bin nicht da?“, fragte ich mich, bevor ich Anfang September zu meiner vierwöchigen Reise durch Europa aufbrach. Schließlich sollte das Bundesverfassungsgericht über den ESM entscheiden, die Aktivisten in Madrid wollten ihr Parlament besetzen und ein großes Bündnis wollte in Deutschland für eine gerechte Umverteilung der Vermögen demonstrieren. Und was mache ich? Urlaub. Zumindest fast.
Revolution im Kleinen
Nach zehn Tagen und einigen ausgedehnten Zugfahrten nach Lyon, Montpellier, Avignon, Barcelona, Figueres und Paris erreichte ich schließlich London, um für drei Wochen als Volunteer zu arbeiten. Ich betrat dort eine andere Welt – und das lag nicht nur an der Insel, die in Europa seit jeher eine Sonderrolle einnimmt. Ich war Teil einer Gemeinschaft, die sich so gut es geht vom System fernhält und versucht, ganz eigene Werte und Prinzipien zu leben. Es war eine tägliche Revolution im Kleinen, die ich dort miterleben konnte.
Nicht viel passiert
Immerhin – denn als ich zurück nach Deutschland kam, war nicht viel passiert. Was hatte ich auch erwartet? Der Aufschrei nach der ESM-Entscheidung blieb aus. Die Berichterstattung über die Proteste in Madrid schien unzureichend gewesen zu sein. Und Kritiker bemängelten am Aktionstag von „UmFairTeilen“, dass eine Umverteilung die Ursachen der Krise nicht aus der Welt räumt. Also alles wie gehabt? Nicht ganz.
Freiheit als Herausforderung
Das große Ganze verläuft zwar anscheinend weiter ungestört in seinen gewohnten Bahnen- was nicht überraschend ist. Dafür habe ich mich aber in gewisser Weise selbst überrascht. Denn seit meiner Rückkehr drehen sich in meinem Kopf wieder eine Menge neuer Gedanken und Ideen. Gleichzeitig setzt meine neue (alte) Lebenssituation als Studentin plötzlich wieder mehr Zeit und Energie frei – etwas, das mir im vergangenen Jahr als Volontärin oft gefehlt hat: Eine Freiheit, die so viel möglich macht, aber auch bedacht genutzt werden will. Das mag ein wenig pathetisch klingen, ist aber tatsächlich eine Herausforderung, die bewusste Entscheidungen erfordert.
Freiwillige Armut
Da sind zum Beispiel die vielen Eindrücke aus London. Ich wohnte dort in einem Haus der „Catholic Worker„, eine katholische Bewegung aus den USA, die in den 30er Jahren damit begann, mit ihren drei Säulen Community, Hospitality und Political Resistance ein Gegenmodell zum kapitalistischen Gesellschaftssystem aufzubauen. Obwohl ich vor einigen Jahren aus der Kirche ausgetreten bin, weil ich an die Menschen und nicht an einen Gott glaube, konnte ich mich mit den Zielen dieser Bewegung identifizieren. Die Grundidee: Die Mitglieder leben in einer Art selbst gewählter Armut (wobei der Begriff Armut je nach Region natürlich sehr unterschiedlich sein kann) – und das gemeinsam mit den Armen.
Gemeinschaft und politischer Widerstand
In diesem Fall hieß das gemeinsam mit 20 obdachlosen Männern, oft Flüchtlingen, die jede Nacht im Nachbarhaus (eine ehemalige Kirche) schliefen. Das Haus der Catholic Worker war ihr Zuhause. Hier wurde für sie gekocht, ihnen zugehört, ihre Wäsche gewaschen. Darüber hinaus öffnete an drei Tagen die Woche ein Community Café, in dem sich alle möglichen Menschen des Stadtteils trafen, die zu wenig Geld für eine Mahlzeit, keine sinnvolle Beschäftigung oder einfach keinen anderen Anlaufpunkt hatten. Und am Sonntag stand die große Suppenküche auf dem Programm. Nebenbei organisierten die Aktivisten eine Reihe von Protest- und Infoveranstaltungen, hauptsächlich im Rahmen der Friedens- und Antikriegsbewegung.
Neue soziale Ordnung
All das bestritt die Gemeinschaft aus Spenden. Die Catholic Worker selbst hatten kein Einkommen. Sie lebten von dem, was da war: ausrangiertes Obst und Gemüse vom Händler um die Ecke, Brot vom Vortag und Kleiderspenden. Profan, sollte man meinen. Doch dahinter stecken sehr ernste und gesellschaftskritische Ideen, die sich bei den Gründern der Catholic Worker (Peter Maurin und Dorothy Day) nachlesen lassen. Sie kritisierten die reine Orientierung am Profit, das Anhäufen von Reichtum auf Kosten der Armen, die Selbstsucht und den ständigen Konkurrenzkampf. Ihr Ziel: Eine neue soziale Ordnung, in der Armut und Arbeitslosigkeit bekämpft und wirtschaftliche Werte wieder durch menschliche ersetzt werden – und jeder sollte damit bei sich selbst anfangen.
Für mich war es eine neue Erfahrung, in seiner solchen Gemeinschaft zu leben. Und auch wenn ich mit der Rechtfertigung durch den Glauben nichts anfangen kann, faszinieren mich die Ideen, die gleichzeitig so simpel und revolutionär sind:
Better or better off
The world would be better off
if people tried to become better.
And people would become better
if they stopped trying to become better off.
For when everybody tries to become better off,
nobody is better off.
But when everybody tries to become better,
everybody is better off.
Everybody would be rich,
if nobody tried to become richer.
And nobody would be poor,
if everybody tried to be the poorest.
And everybody would be what he ought to be
if everbody tried to be
what he wants the other fellow to be.
(Peter Maurin)
Ideal und Realität
In den „Easy Essays“ von Peter Maurin klingt alles so leicht. Er bringt die Probleme auf den Punkt und skizziert gleichzeitig ein Ideal, das nicht bloß nach Utopie klingt. Doch wie setze ich dieses Ideal in meinem Leben um? Wie kann ich einen Teil dieser Philosophie in meinen Alltag integrieren? Mir kamen schon die unterschiedlichsten Ideen, um dem kapitalistischen System zumindest einen kleinen Strich durch die Rechnung zu machen und mich dem konsum- und profitorientierten Lebensstil zu entziehen. Klamotten aus Second Hand Läden. Mein Fahrrad reparieren statt ein neues zu kaufen. Bücher ausleihen statt bei Amazon bestellen. Doch (wie immer) ich stoße an Grenzen. Will ich nachts losziehen, um Lebensmittel aus Mülltonnen zu fischen? Kann ich einen Gemüsehändler fragen, ob er mir Ware überlässt, die er nicht mehr verkaufen kann/will? Und gibt es nicht immer noch genug Dinge, auf die ich nicht verzichten wollen würde?
Kompromisse machen
Ich sagte ja bereits: Freiheit ist eine Herausforderung. Ich kann frei entscheiden, wie ich mein Leben gestalte und muss trotzdem ständig Kompromisse machen – mit mir und dem System. Das gilt auch für die Arbeit. In London gab es meistens genug zu tun: die Projekte, der Haushalt, Diskussionen und Vorträge. Um Geld musste ich mir wenig Sorgen machen, weil ich für Unterkunft und Verpflegung nichts bezahlen musste. Das ist hier anders. Ich habe Ausgaben – und im Moment keinen Job. Ein Jahr lang hatte ich nun ein regelmäßiges Einkommen. Daran kann man sich gewöhnen. Auf der anderen Seite möchte ich nicht wieder zurück in diese 40-Stunden-Woche. Das hat nichts mit Faulheit zu tun, sondert mit der Definition von Arbeit – und mit Zufriedenheit, Sinn, Muse und Aktivismus. Diese Dinge immer in die „Freizeit“ verschieben zu müssen, tat mir und meinem Energielevel auf Dauer nicht gut.
Konkrete Arbeit ist nicht genug
Ich freue mich wieder auf die Uni. Die Arbeit in London war konkret, sie erreichte und verband die Menschen, sie machte die Welt vor Ort ein wenig besser. Und doch fehlte mir mitunter der größere Zusammenhang. Es ist schwer zu erklären, aber ich brauche wohl eine Kombination aus beidem. Wie Peter Maurin es nennt: „Thought and action must be combined. When thought is separated from action, it becomes academic. When thought is related to action, it becomes dynamic.“ Mein (zum Glück recht interessanter) Stundenplan wird hoffentlich genug Raum lassen für
- Projekte wie die Suppenküche Kana (übrigens eines von zwei Standorten der Catholic Worker in Deutschland)
- Aktionen und Asambleas von Occupy (z.B. Global Noise am 13. Oktober, das NRW-Vernetzungstreffen am 14. Oktober und Blockupy Frankfurt am 20./21. Oktober)
- meinen Blog
… und für mehr Bücher und Artikel. Die langen Zugfahrten habe ich dafür genutzt, „Die Schockstrategie –Der Aufstieg des Katastrophenkapitalismus“ von Naomi Klein zu lesen. Ein dicker Wälzer, der sich wirklich lohnt und eine gute Grundlage legt – nicht nur was Faktenwissen angeht, sondern auch das Bewusstsein, dass ein globaler Wandel unbedingt nötig ist. Weiter geht es nun mit „Wie Wirtschaft die Welt bewegt – Die großen ökonomischen Modelle auf dem Prüfstand“ von Hans Bürger und Kurt W. Rothschild. Es muss doch möglich sein, zumindest ansatzweise zu verstehen, was sich um uns herum abspielt, oder?
Fragen über Fragen
Geld gibt es dafür nicht. Und ganz ohne geht es eben nicht. Soll ich mir also einen Job suchen? Und wenn ja, soll es ein journalistischer sein? Einige meiner Altersgenossen zeigen mir, dass man auch mit Mitte 20 schon die Karriereleiter emporsteigen kann. Will ich das auch? Oder könnte ich mir etwas anderes vorstellen? Ein Buchladen? Ein Bio-Laden? Fragen über Fragen. Aber immerhin hab ich Zeit und Energie, nach den Antworten zu suchen.
Zum Weiterhören:
David Rovics spielte seine „Songs of Social Significance“ am 25. September im London Action Resource Centre. Auch über die Occupy-Bewegung hat er einen Song geschrieben: Stay right here
Ich würde sagen: Ja! Wenn du dir einen Job suchst, dann einen journalistischen. Ich lese zur Zeit „Meinungsmache“ von Albrecht Müller (sehr zu empfehlen), in dem beschrieben wird, wie die öffentliche Meinung und dadurch politische Entscheidungen gezielt durch die Medien beeinflusst werden.
Ich denke, dass so viele Gegenstimmen wie möglich daran arbeiten sollten, diese Meinungsmache zu verhindern und die Menschen aufklären sollten, was wirklich abgeht.
Journalisten haben in meinen Augen einen der wichtigsten Jobs überhaupt – die Aufklärung und Bewusstsein-schaffen unter den Bürgern, die nicht die Zeit haben, sich in alle möglichen Prozesse genauestens einzulesen.
Und gerade du, da du ja kritisch dem System gegenüberstehst, solltest meiner Meinung nach unbedingt weiter und in mehr Medien über politische Missstände berichten; nicht nur in deinem Blog, der sich aber toll entwickelt hat.
LG
Bei deinem Eiffelturm muss ich an einen Artikel über Urheberrecht denken, leider gilt die Panoramafreiheit in Frankreich nicht, die Betreibergesellschaft SETE beansprucht das Urheberrecht für nächtliche Aufnahmen, in denen der bestrahlte Eiffelturm als Hauptobjekt zu sehen ist, obwohl am Bauwerk selbst keine Urheberrechte mehr bestehen. Es ist unglaublich, aber nächtliche Aufnahmen des Turms dürfen nicht einfach so veröffentlicht werden…