Es waren Tausende. Bestens ausgerüstet und mit einem ausgereiften Plan im Gepäck blockierten die Demonstranten die wichtigsten Kreuzungen, umzingelten die Gebäude und brachten einen großen Teil der Stadt zum Erliegen. Sie blieben friedlich – auch als die Polizei mit Tränengas und Schlagstöcken anrückte. Die Aktivisten setzten ein Zeichen, das die Welt so schnell nicht vergessen wird.
Wie im Film
Leider stammen diese Szenen nicht aus der Realität, zumindest nicht aus der Gegenwart. Sie stammen aus dem Film „Battle in Seattle„, der die Proteste anlässlich des WTO-Gipfels in Seattle 1999 dokumentiert. Zwar sind die Personen frei erfunden, trotzdem beruht die Handlung auf wahren Begebenheiten – und die sind mehr als beeindruckend. Was die Demonstranten in diesen fünf Tagen auf die Beine stellten, kann sich mehr als sehen lassen. Auch wenn es zu gewaltsamen Ausschreitungen kam, beweisen diese Proteste, welche Wirkung friedlicher Widerstand haben kann – zumindest für eine gewisse Zeit. Als ich den Film anschaute, schoss mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf: Seit diesem Gipfel sind 13 Jahre vergangen – mehr als ein Jahrzehnt. Was hat sich seitdem geändert?
Genug Grund zur Empörung
Offensichtlich nicht viel. Die globalen Probleme sind nicht nur größer geworden, sie sind auch offensichtlicher und akuter denn je. So wie damals gibt es immer noch unzählige Gründe, wütend und empört zu sein. Es gibt so viele Baustellen, die dringend unserer ehrlichen und konstruktiven Aufmerksamkeit bedürfen. Sei es die ungerechte Verteilung des Wohlstands, sei es die systematische Unterdrückung bestimmter Bevölkerungsgruppen, sei es die Ausbeutung der Erde, sei es der allmächtige Kapitalismus oder sei es die Zahl der Menschen, die täglich an Hunger oder im Krieg sterben. Ich weiß nicht, wie oft ich schon solche Aufzählungen gepostet habe – und doch erschreckt es mich jedes Mal auf’s Neue.
Gefahr für das System
Und es nicht nur die Tatsache, dass all diese Probleme existieren. Es ist vor allem die Erkenntnis, dass sich daran seit einer Ewigkeit nichts geändert hat – und wir systematisch davon abgehalten werden, etwas dagegen zu tun. Mich kostet es tatsächlich viel Energie und Zeit, mich immer wieder daran erinnern, dass die Welt, in der ich lebe nicht in Ordnung ist – selbst wenn sie auf den ersten Blick so aussieht. So funktioniert das System: Wir sollen bestimmte Dinge einfach nicht sehen. Denn dann könnten wir ihm gefährlich werden.
Unglaubliche Energie
Die Occupy-Bewegung wurde ein Ventil für genau dieses diffuse Gefühl vieler Menschen, dass hinter der Fassade einiges bröckelt. Auf der ganzen Welt gingen Menschen auf die Straße, sie saßen gemeinsam in Asambleas und diskutierten miteinander, sie eroberten den öffentlichen Raum und wurden sichtbar. Plötzlich schien sich etwas zu bewegen. Plötzlich war da eine unglaubliche Energie, getragen von der gemeinsamen Empörung über die herrschenden Verhältnisse.
Ein Jahr danach
Das ist ein Jahr her. Zum Geburtstag schenkte sich Occupy einen weltweiten Aktionstag unter dem Motto „Global Noise“. Leider war vielerorts von der anfänglichen Euphorie nicht mehr viel zu spüren. In Dortmund zogen wir mit rund 40 Demonstranten durch die Stadt. In Düsseldorf kamen trotz einer groß angelegten Mobilisierungsaktion nur 300 Menschen zusammen. Schon Wochen vorher hieß es in den Medien „Occupy ist tot!“. Wieder nur eine von vielen Protestbewegungen, die nach einigen punktuellen Erfolgen im Strom der Zeit untergeht? Ich kann es nicht mehr hören – und frage: Was habt ihr denn erwartet?
Es gibt keine Patentlösung
Ja, die Demonstrationen sind kleiner geworden. Ja, die Reihen vieler Occupy-Gruppen lichten sich. Und ja, die Camps sind mehr oder weniger verschwunden. Das ist ernüchternd, keine Frage. Aber es ist keine Überraschung. Nach großen und erfolgreichen Aktionen stellt sich immer die Frage der Nachhaltigkeit – und die besteht zumindest in Deutschland nicht darin, dauerhaft einen großen Teil der Bevölkerung auf die Straße zu bekommen. Es gab einen Hype und der ist inzwischen vorüber. Aber das bedeutet nicht, dass die Bewegung am Ende ist. Sie erfüllt nur nicht die Anforderungen derer, die sie kritisch beäugen oder gar belächeln. Occupy seine Bedeutung abzusprechen, nur weil in einem Jahr nicht die Welt verändert wurde, ist beinahe zynisch. Jahrzehntelang haben sich die Probleme vor uns aufgetürmt und nun sollen die Aktivisten in wenigen Monaten die Patentlösung entwickeln?
Gelebter Wandel
Wer darauf hofft, wird zwangsläufig enttäuscht. Wer allerdings bereit ist, sich dem Gefühl zu öffnen, das sich nach einem Jahr Occupy in vielen Menschen eingenistet hat, darf vorsichtig optimistisch sein. Diese Sehnsucht nach Frieden, nach einem humanen Wirtschaftssystem, nach einem Leben mit (und nicht auf Kosten) der Erde und nach einer demokratischen Gesellschaft bleibt, auch wenn die Straßen mitunter leer bleiben. Nach all den Camps und Demonstrationen, die mit viel persönlichem Engagement verbunden waren, können wir nicht einfach zur Tagesordnung zurückkehren. Stattdessen arbeiten die Menschen weiterhin an einem Wandel – und leben ihn in den vielfältigsten Formen. Sie mögen nicht mehr so sichtbar sein wie im Camp vor der EZB. Aber es gibt sie. Überall.
Das Potenzial muss genutzt werden
Davon konnte ich mich am Tag nach der Dortmunder Demo selbst überzeugen. Bei einem Vernetzungstreffen von Aktivisten aus NRW (und einigen anderen Bundesländern) wurden Ideen diskutiert, wie die Bewegung sich weiter entwickeln und aktiv bleiben kann – sowohl inhaltlich als auch in Form von öffentlichen Protesten. Es gibt so viel Potenzial. Es muss nur genutzt werden. Occupy ist kein in sich geschlossener Raum, geschweige denn ein Konzept. Es geht um das Ziel – und dieses Ziel verfolgen viele, teilweise schon seit vielen Jahren. Deshalb ist der Austausch und die Vernetzung mit anderen Gruppen und Initiativen unerlässlich. Schon nächstes Wochenende steht in Frankfurt wieder eine große Aktionskonferenz auf dem Programm. Sieht so eine tote Bewegung aus?
Kein fertiges Konzept
Wir haben keinen ausformulierten Forderungskatalog und umso mehr unterschiedliche Gruppen und Aktivisten sich anschließen, umso vielfältiger (und im Ganzen vielleicht unkronketer) werden die Vorstellungen einer möglichen anderen Welt. Das ist allerdings keine Schwäche. Der Gesellschaft soll kein fertiges Konzept vorgesetzt werden – davon gibt es schon genug. Stattdessen sollen alle die Möglichkeit haben, sich am Entstehungsprozess zu beteiligen. Das funktioniert nur Schritt für Schritt. Vorschläge und Ideen gibt es genug, wir müssen sie aber gemeinsam mit Leben füllen. Für all das braucht es einen langen Atem, keine Frage. Aber ist es das nicht wert?
Zum Weiterlesen
„Wir selbst sind das Imperium“ (Felix Stephan, Zeit Online, 17. September 2012)
„Ein Jahr Occupy: Das Volk hat Termine“ (Lenz Jacobsen, Zeit Online, 17. Oktober 2012)
Wenn sich 99% beteiligt hätten…