Es ist so naheliegend und doch für viele erst einmal gewöhnungsbedürftig: Einkaufen ohne Geld. Wie soll das gehen? Braucht es nicht irgendeine Gegenleistung, wenn ich ein Produkt mit nach Hause nehme? Muss ich mich nicht rechtfertigen, warum ich etwas brauche?
Nein, weder noch. Im Umsonstladen Dortmund kann jede*r die Dinge mitnehmen, die er gebrauchen kann. Ohne etwas dafür zu leisten und ohne sich vor jemandem dafür zu erklären. Es gibt keine Bedingungen, niemand muss seine Bedürftigkeit nachweisen. Statt Gewinn, Profit und Wachstum steht hier einzig und allein die Solidarität im Mittelpunkt. Die Solidarität zwischen den Menschen, die den Umsonstladen betreiben und besuchen. Klingt schön, oder? Zu schön, um wahr zu sein?
Die Praxis als Gegenbeweis
Keineswegs. Die Praxis zeigt: Es funktioniert. Seit knapp einem halben Jahr öffnet der Umsonstladen im Nordpol einmal im Monat seine Türen. Schon eine halbe Stunde vorher drängeln sich die Menschen um den Eingang. Sie sind gespannt auf die vielen Dinge, die dieses Mal auf den Tischen im Nordpol liegen – und jedes Mal sind sie gut gefüllt. Nie hatte der Umsonstladen das Problem, zu wenige Kleidungsstücke, Bücher oder Spielsachen zu haben. Dank des Prinzips des Geben und Nehmens bekommt er jeden Monat unzählige Tüten und Kisten mit Nachschub.
Manche sagen dazu Spenden. Doch der Ausdruck trifft die Idee der Solidarökonomie nicht. Es geht nicht darum, dass die Reichen etwas abgeben an die Armen. Solidarität heißt, dass die Menschen sich auf Augenhöhe begegnen. Hier werden keine Almosen verteilt. Vielmehr wird der gemeinsame Reichtum verteilt – und zwar so, dass jede*r seine Bedürfnisse befriedigen kann.
Glück heißt nicht Wachstum
Sich über diese Bedürfnisse bewusst zu werden, ist an sich schon eine Herausforderung. Was brauche ich eigentlich für ein gutes Leben? Das neuste Handy? Jeden Monat neue T-Shirts und Hosen? Neue Spielsachen? Die Wirtschaft will uns einreden, dass wir nur glücklich werden, wenn wir möglichst oft und möglichst viel konsumieren. Dabei schert sie sich kein Stück um unsere Zufriedenheit. Glück heißt im Kapitalismus: Wachstum. Immer weiter in unsere Leben eindringen, um immer mehr zu verkaufen, um immer mehr Geld verdienen.
Böse Zungen würden behaupten: Dieser Sozialkitsch, von wegen Solidarität und so, das wäre nur eine schönere Umschreibung für Verzicht. Eine Illusion für Menschen, die es nicht schaffen, genug Geld zu verdienen, um sich ein schönes Leben zu machen. Die versagt haben. Die Solidarökonomie hingegen sagt: Jeder Mensch hat ein Recht auf ein gutes Leben. Dabei darf keine Rolle spielen, was der- oder diejenige leistet – wobei die kapitalistische Definition von Leistung ohnehin längst zur Debatte stehen sollte.
Sicherheit der Gemeinschaft
Die Solidarökonomie kann uns vor Augen führen, was wir wirklich brauchen – und was nicht. Was kann ich abgeben, damit jemand anders es weiter verwenden kann? Was kann ich aus dem Umsonstladen mitnehmen, anstatt es neu zu kaufen? Auf diese Weise landen weniger Dinge im Müll. Und gleichzeitig entziehen wir uns zumindest ein Stück weit dem Kreislauf der kapitalistischen Produktion – und dem finanziellen Druck, der dadurch entsteht. Stattdessen bauen wir auf die Sicherheit der Gemeinschaft.
Dass ein Umsonstladen nur ein Teil einer alternativen Wirtschaft sein kann, steht außer Frage. Aber es kommt nicht darauf an, die großen Einkaufszentren von einem auf den anderen Tag zu ersetzen, auch wenn das durchaus erstrebenswert wäre. Vielmehr geht es darum, alternative Strukturen aufzubauen, die auf Selbstorganisation beruhen. Hier soll das gute Leben so umgesetzt werden, wie die Beteiligten es sich vorstellen: gemeinschaftlich, gleichberechtigt und ohne hierarchische Strukturen.
Probleme erkennen und diskutieren
Natürlich lassen sich diese Ideale nicht immer erreichen. Was aber kein Grund ist, sie von vorne herein als utopisch zu bezeichnen. Sie sollten Motivation sein, Probleme zu erkennen, zu diskutieren und anzugehen. Konkret heißt das zum Beispiel: Wie können wir noch mehr Menschen (vor allem aus dem Viertel) in das Kollektiv einbeziehen? Wie gehen wir mit Kommunikationsschwierigkeiten und versteckten Hierarchien um? Wie können wir unsere Ziele deutlich machen, ohne feste Regeln aufzustellen? Auf welche Standpunkte können wir uns einigen? Wie können wir die Arbeit gerecht verteilen?
Lösungen können wir nur gemeinsam finden. Deshalb betont das Kollektiv immer wieder, dass es keine geschlossene Struktur ist. Alle sind eingeladen, sich auf ihre Weise einzubringen und ein Teil des Projektes zu werden. Sei es aus rein pragmatischen Gründen, aus politischer Überzeugung oder aus purem Aktionismus – der erste Schritt ist oft der Wichtigste.
Weiterführende Links:
Definition und Beispiele von Solidarökonomie
Ähnliche Blog-Artikel vom Mädchen im Park:
Ein „Gib und Nimm“-Tisch für Dortmund (10. Dezember 2012)
Danke für die gute Beschreibung eines klasse Projektes. Tatsächlich floriert diese Kultur langsam aber sicher. Gut so!
Zwei Anmerkungen:
Ich würde noch einen Schritt weiter gehen in der These, was (manche Teile der) Wirtschaft wollen: für eine auf Gewinnmaximierung (nicht nur Gewinnerzielung! Letzteres halte ich für vollkommen legitim und traue einem achtsamen Unternehmertum auch gesellschaftlich förderliche Kraft zu) ausgerichtete Ökonomie ist ein glücklicher oder zufriedener Mensch eine unerwünschte Einheit.
Die erwünschte ökonomische Einheit für einen nur auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Kapitalismus ist der unzufriedene, frustrierte Single oder die unzufriedene Kleinfamilie, wenig in der eigenen Mitte, ständig auf der Suche nach materiellen oder immateriellen Sensationen, die konsumiert werden, um die Leere zu füllen.
Umso wichtiger finde ich einerseits Projekte, die gemeinschaftliches Tun befördern und andererseits die Stärkung von Bewusstheit über die individuellen Prozesse, die eigenen Prozesse und Motivationen – Klärung von Selbstbildern (warum brauche ich diese oder jene Statussymbole oder Konsumgegenstände?… warum muss ich mich mit der Seite der Gerechten identifizieren?… warum kann ich mich nur entweder altruistisch oder egoistisch sehen? warum kann ich mich nicht anders als in den bisher üblichen Sozialstrukturen (Single, Kleinfamilie, vor allem aber Konsument) lebend sehen?)
Ebenfalls wichtig und gut, dass sich auch „in der Wirtschaft“ Strukturen bilden, die von verantwortungsbewusstem Wirtschaften sprechen (und damit meine ich nicht Green Economy sondern z.B. das NAW (Netzwerk Achtsame Wirtschaft) http://www.achtsame-wirtschaft.de
Hat dies auf @RevoTweets rebloggt.