Lokalpolitik auf dem Weg zur Transformation

Wir stehen vor großen Herausforderungen. Eine Krise reiht sich an die nächste. Unser Wirtschaftssystem strauchelt und zeigt dabei immer deutlicher seine fatalen Wirkungen. Doch immer mehr Menschen möchten dem etwas entgegensetzen. Sie wollen Alternativen aufbauen, die auf Solidarität und Nachhaltigkeit setzen statt auf Konkurrenz und Profit. Sie wissen: Es wird nicht reichen, an einigen Stellschrauben zu drehen, „grünes Wachstum“ zu forcieren und Elektroautos zu nutzen. Nein, es braucht tiefgreifende Veränderungen, die unser momentanes Wertesystem völlig in Frage stellen. Es muss um andere Verhaltensweisen gehen, andere Prioritäten und ein anderes Verständnis vom guten Leben. Aber wo und wie können solche radikalen Veränderungen stattfinden?

Steffen Andreae hat für sich eine Antwort auf diese Frage gefunden: die Lokalpolitik. Bei der anstehenden Kommunalwahl in Hessen tritt er als Bürgermeisterkandidat in der Gemeinde Kaufungen an. In seinem Buch „Richtung ändern!“ richtet er sich unter anderem an seine Wähler*innen und möchte ihnen deutlich machen, wie er die Lokalpolitik nutzen möchte, um einen neuen Weg einzuschlagen – gemeinsam mit allen Beteiligten. Gleichzeitig möchte er die Menschen, ob sie nun in Kaufungen wohnen oder nicht, wieder dafür begeistern, sich in ihrem Ort einzubringen, Verantwortung zu übernehmen und ihre Umgebung aktiv mitzugestalten.

Anderes Lebenskonzept

Seit zehn Jahren lebt Steffen Andreae in Kaufungen, genauer gesagt in der politischen Kommune Lossehof. Schon jetzt wirkt er also an einem Lebenskonzept mit, das unter anderem auf ein gemeinsames und solidarisches Wirtschaften sowie auf gleichberechtige und konsensuale Entscheidungsstrukturen setzt. Die vergangenen fünf Jahre saß er als Vertreter der Grünen Linken Liste Kaufungen (GLLK) in der Gemeindevertretung.

Obwohl er immer wieder die starren Strukturen und die fehlenden Visionen kritisiert, die er dort vorgefunden hat, wird deutlich, dass er in der Lokalpolitik gleichzeitig unglaublich viel Potenzial und Freude wahrnimmt: Potenzial, um die anstehenden Herausforderungen zu meistern und Freude, gemeinsam Ideen zu schmieden und Lösungen zu finden.

Schwerpunkt: Bürger*innenbeteiligung

Auf einige dieser Lösungen geht er in seinem Buch bereits relativ konkret ein. Zentrales Element seines Politikverständnisses: Bürger*innenbeteiligung. Allerdings sieht diese ein wenig anders aus, als sie bisher von vielen Politiker*innen gestaltet wird. Die Menschen sollen nicht erst im Nachhinein eine bereits getroffene Entscheidung absegnen, sondern stattdessen aktiv am kompletten Entscheidungsprozess teilnehmen. Sie sollen nicht nur zwischen vorgefertigten Vorschlägen auswählen können, sie sollen selbst kreativ werden können, zum Beispiel in Form von Bürger*innenhaushalten.

Nötig dafür ist eine neue Form der Transparenz und der Vermittlung. Die Einwohner*innen brauchen alle nötigen Informationen, um Folgen abschätzen und eine fundierte Entscheidung treffen zu können. Das heißt auch, dass Politiker*innen mitunter gegen den Mainstream arbeiten müssen, zum Beispiel wenn es um die Aufnahme von geflüchteten Menschen geht. Dem Thema Flucht räumt Andreae viel Platz ein und betont, dass wir eine Mitverantwortung für die Fluchtursachen der Menschen tragen, die täglich in Europa ankommen.

Überwindung des Kapitalismus

Nicht nur an diesem Thema wird deutlich, dass der Autor die Kommunalpolitik in einem größeren Zusammenhang sieht. Zwar ist er sich bewusst, dass in Kaufungen nicht alle Probleme der Welt gelöst werden können. Aber nichts desto trotz lassen sich seiner Meinung nach hier viele Lösungen und Ansätze auf den Weg bringen, die wertvoll sind für die notwendige Transformation – und dazu gehört für ihn auch eine Überwindung des Kapitalismus in Richtung einer solidarischen Postwachstumsgesellschaft.

Noch ist für uns eine Welt ohne Wachstum schwer vorstellbar. Das schürt Ängste – genauso wie all die Veränderungen, die im Alltag auf uns zu kommen. Wir werden weniger konsumieren, wir werden uns anders fortbewegen, wir werden weniger produzieren und mehr reparieren, wir werden anders wohnen und anderen Beschäftigungen nachgehen. Doch statt ständig von Verzicht zu sprechen, versucht der Autor diese Veränderungen umzudeuten in einen Gewinn für unser Wohlbefinden. Und er hat Recht, wenn er schreibt:

„In der Tat leben wir heute bereits in einer Verzichtsgesellschaft. Wir verzichten darauf, dass alle Menschen Zugang zu Nahrung, Bildung und Wohnraum haben. Wir verzichten auf gesunde Böden und saubere Luft. Wir verzichten auf die Ruhe und Gelassenheit einer entschleunigten Gesellschaft. Wir verzichten auf gesundes Essen und fleischarme Kost. Wir verzichten auf eine Bildung, die uns vorbereitet auf eine Postwachstumsgesellschaft. Wir verzichten auf eine reiche Medienlandschaft und wir verzichten auf den Kontakt, der sich ergibt, wenn wir auf einem belebten Markt stehen. All diesen Verzicht nehmen wir einfach so hin. So schlimm kann es also gar nicht sein. Von diesem Verzicht wird zu wenig gesprochen.“ (Seite 85)

Bei allem Tatendrang und Optimismus macht Steffen Andreae deutlich: Wir müssen kämpfen. Das jetzige System hat zahlreiche Profiteur*innen, die es nicht hinnehmen werden, wenn sie an Einfluss, Macht und Reichtum verlieren:

„Der ganze Apparat wird sich in Bewegung setzen, um nichts zu ändern. Das dürfen wir nie vergessen. Die Transformation, so nötig und unausweichlich sie auch ist, wird sich gegen das Bestehende durchsetzen müssen. Unabhängig davon, dass das Bestehende selbst nicht funktioniert. Denn das Bestehende hat auch Gewinner.“ (Seite 38)

Gegen diese Kräfte gilt es sich aktiv zur Wehr zu setzen. Für die lokale Ebene macht Steffen Andreae dafür einige Vorschläge, die auch die prekäre finanzielle Lage der Kommunen nicht außer Acht setzen. Von interkommunaler Zusammenarbeit über Drei-Generationen-Gespräche und Carsharing bis hin zur Einführung einer Kommunalwährung und eines Wochenmarktes zeigt das Buch zahlreiche Möglichkeiten auf, die das Zusammenleben in Kaufungen neu gestalten könnten. Die Vorschläge sind einfach und konkret, sie bedürfen aber klarer Entscheidungen und den Willen zur Umsetzung.

Begeisterung für kommunale Politik

Es ist bewunderswert, wie Steffen Andreae sich für diesen Weg des politischen Aktivismus begeistern kann, obwohl er in den letzten Jahren viele Erfahrungen mit Politikverdrossenheit und den Mühlen der Verwaltung gemacht hat. Was in seinem Buch zu wenig zur Sprache kommt, ist eine grundlegendere Kritik der politischen Strukturen, wie sie die repräsentative Demokratie hervorbringt. Es bleibt abzuwarten, inwiefern eine Beteiligung der Bürger*innen diese Strukturen tatsächlich aufbrechen kann.

Auch wird nicht darauf eingegangen, wie sich die GLLK intern organisiert. Andreae betont immer wieder, dass er über Parteigrenzen hinaus mit den Menschen zusammenarbeiten will. Es komme ihm vielmehr darauf an, seinen Gegenüber zu hören, sich Ideen unvoreingenommen anzuhören und zu diskutieren. Parteien sind und bleiben aber hierarchische Organisationen und ihre Hierarchien werden Menschen und Prozesse beeinflussen. Die beiden politischen Kommunen in Nieder- und Oberkaufungen werden nur am Rande erwähnt, als es um das Thema Wohnen geht. Dabei könnten gerade ihre Entscheidungsstrukturen als Vorbild dienen.

Der gefährliche Weg durch die Institutionen

Oft gibt es zwischen Aktivist*innen Auseinandersetzungen darüber, ob sie einen parlamentarischen Weg einschlagen sollten oder nicht. Können wir außerhalb der etablierten Strukturen etwas erreichen oder brauchen wir Verbündete in den Institutionen? Sollten wir unsere Kräfte auf einen der beiden Wege konzentrieren, um nicht in verschiedene Gruppen zu zerfallen? Ich habe diese Frage für mich noch nicht endgültig beantworten können. Allerdings merke ich immer wieder, wie kraft- und zeitraubend die Diskussionen sind, wenn es darum geht, welcher Weg der Richtige ist. Inzwischen bin ich mir nicht mehr sicher, ob es den einen richtigen Weg überhaupt gibt. Für jede*r Aktivist*in sieht er vielleicht ein wenig anders aus. Aber ist er deshalb falsch? Wir sollten versuchen, unsere Kräfte zu bündeln – auch wenn sie an unterschiedlichen Punkten ansetzen.

Das Buch wird bis zur Wahl am 6. März 2016 abschnittsweise im Internet veröffentlicht.

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