Plötzlich und unerwartet wurden Markéta Adamova und ihre Mitbewohner*innen in der Villa Locomuna vor die Herausforderung gestellt, ein Leben mit Hilfsbedürftigkeit in ihrer Gemeinschaft zu organisieren. Wie haben sie diese neue Situation gemeistert?
Ein Satz ist Markéta Adamova besonders im Gedächtnis geblieben: „Wir schaffen das schon.“ Als sie nach einem Schlaganfall in ihre Wohn- und Lebensgemeinschaft zurückkehrt, kann sie sich noch nicht vorstellen, wie ihr Alltag dort in Zukunft aussehen soll: Sie ist körperlich stark eingeschränkt und auf einen Rollstuhl angewiesen. Doch ihre Mitbewohner*innen haben beschlossen: Sie wollen die neue Herausforderung „Leben mit Hilfsbedürftigkeit“ aufnehmen und sind bereit, daran zu wachsen. Ganz nach dem Motto: learning by doing.
Seit 2008 lebt Markéta Adamova in der Villa Locomuna, einer politischen Kommune in Kassel. Als sie einzog, ging es ihr vor allem um das gemeinschaftliche Wohnen und gemeinsame Projekte, die sie mit den anderen Kommunard*innen realisieren wollte. So praktizieren die Bewohner*innen unter anderem Gemeinsame Ökonomie und sind in zahlreichen politischen Initiativen aktiv. Adamova selbst wurde in den 70er Jahren politisiert, als sie sich in der Frauen- und Lesbenbewegung engagierte.
Autonomie in allen Lebensbereichen
„Mein Alter war überhaupt kein Thema, als ich in die Villa zog“, erinnert sie sich heute. Sie machte sich keine Gedanken darüber, ob sie irgendwann einmal auf die Hilfe der anderen Bewohner*innen angewiesen sein könnte. Im Gegenteil: Ihre Autonomie war ihr sehr wichtig. Als Sozialpädagogin arbeitete sie in einem Kulturzentrum mit migrantischen Kindern und deren Eltern. Sie legte so gut wie alle Strecken mit dem Fahrrad zurück, machte Tai Chi und ging regelmäßig zu Konzerten, ins Kino und zu politischen Info-Veranstaltungen. „Ich konnte jeden Moment frei entscheiden, was ich machen wollte und war manchmal für die Kommune auch schwer zu erreichen“, erzählt Adamova.
Manchmal mache sie diese Erinnerung noch traurig oder ärgerlich, weil sie eine Großteil ihrer Autonomie durch den Schlaganfall verloren hat: „Manchmal will ich einfach raus in die Natur oder in die Sauna, spontan und allein irgendwo hingehen. Aber das geht nicht. Zuerst muss ich jemanden finden, der mich begleitet.“
In der Villa Locomuna wohnen derzeit 19 Erwachsene und fünf Kinder. „Ich habe also theoretisch eine große Auswahl an Helfer*innen“, sagt die 63-Jährige. „Aber meine Mitbewohner*innen haben natürlich auch alle ihr eigenes Leben.“ Drei Kommunard*innen arbeiten für sie deshalb als persönliche Assistent*innen. Sie sind angestellt beim Kasseler „Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter“ (fab) und übernehmen abwechselnd den täglichen Frühdienst. Sie bereiten das Frühstück vor und klären ab, welche Erledigungen am Tag noch anstehen – sei es die Wäsche, das Mittagessen, Einkäufe im Bioladen oder bürokratische Angelegenheiten.
Persönliche Assistenz direkt im Haus
„Es fühlt sich klasse an, dass sich Menschen um mich kümmern, die ich kenne und die mir nahestehen“, sagt Markéta Adamova. Vor allem in der ersten Zeit, in der sie noch Hilfe brauchte, um auf die Toilette zu gehen und sich zu waschen, war sie froh, dass keine Pfleger*innen von außerhalb kommen mussten. „Abgesehen davon ist es einfach sehr praktisch: Meine Assistent*innen wohnen im gleichen Haus, kommen morgens nur die Treppe hinunter, trinken einen Kaffee mit mir und wir können gemeinsam abstimmen, wie wir den Rest des Tages organisieren.“
Das ist an manchen Tagen durchaus eine Herausforderungen, denn der Terminkalender der 63-Jährigen ist gut gefüllt. Insgesamt sechs Therapietermine hat sie jede Woche: zwei Mal Physio-, zwei Mal Ergo-, einmal Neuro- und einmal Hippo-Therapie. Dazu kommen pro Monat sechs interne Treffen der Villa Locomuna. An der Tür zu Adamovas Wohngemeinschaft hängt ein Wochenplan, in den sich alle Bewohner*innen eintragen, wenn sie eine „Schicht“ übernehmen können. Damit im Notfall immer jemand zur Stelle ist, gibt es ein „Ruf-Handy“, das im Idealfall immer jemand bei sich trägt.
Praktische und soziale Unterstützung
Als Markéta Adamova im November 2013 im Bad plötzlich umkippte und nicht mehr aufstehen konnte, merkten ihre Mitbewohner relativ schnell, dass etwas nicht stimmt. „Es war damals schon ein großes Glück, nicht allein in einer Single-Wohnung zu wohnen“, sagt Adamova heute. Seit dem Schlaganfall ist ihre linke Körperseite gelähmt. Außerdem leidet sie an einer Neglect-Störung. Sie brauchte eine ganze Weile, um zu realisieren, wie viel Hilfe sie nun für die einfachsten Dinge benötigt. An die Zeit im Krankenhaus schließt sich eine fünfwöchige Reha an. Diese Zeit nutzen ihre Mitbewohner*innen unter anderem für bauliche Veränderungen. Sie bereiten ein Zimmer im Erdgeschoss vor und bauen die Etage möglichst barrierefrei um, insbesondere das Bad. „Ich musste mir eigentlich keine Sorgen machen“, so Markéta Adamova. „Ich habe das Glück, dass Menschen sowohl praktisch als auch sozial für mich da sind.“
Im Dezember 2014 war sie mit einer Kommunardin in Indien, um eine dreiwöchige ayurvedische Kur zu machen. Direkt im Anschluss ging es zur zweiten Reha: „Dort habe ich einen ziemlichen Sprung macht.“ Sie trainierte, sich alleine anzuziehen und aufzustehen. Sie kann ihr Gleichgewicht inzwischen besser kontrollieren und selbstständig Treppen steigen. Mit Unterstützung funktioniert auch das Laufen immer besser.
Trotz ihrer Beeinträchtigung ist Adamova viel unterwegs: Sie fährt inzwischen alleine mit dem Zug, um ihre Tochter in Berlin zu besuchen. Gemeinsam mit ihren Kommunard*innen war sie im Mai auf einem mehrtägigen Kommune-Festival auf einem Hof in Norddeutschland und übernahm die Leitung mehrerer Workshops. Mit einer Freundin fuhr sie im Juli zum Interkulturellen Frauenmusikfestival im Hunsrück.
Altersrente statt Wiedereinstieg in den Beruf
Den Wunsch, wieder zu arbeiten, hat sie inzwischen allerdings aufgegeben. Obwohl es Gespräche mit ihrem ehemaligen Arbeitgeber gab, konnte keine Stelle geschaffen werden, die den räumlichen Erfordernissen und ihren körperlichen Möglichkeiten entsprochen hätte. „Ich habe aber festgestellt, dass ich mit meinen vielen Terminen schon sehr viel zu tun habe und oft erschöpft bin“, sagt Adamova. „Ich würde es kräftemäßig wohl gar nicht schaffen, zu arbeiten – zumal mein Alltag ja sehr viel mühsamer ist als früher.“ Stattdessen hat sie nun Altersrente für Schwerbehinderte beantragt.
Als Mitglied in einer solidarischen Wirtschaftsgemeinschaft denkt sie natürlich darüber nach, wie viel Geld sie in die gemeinsame Kasse einbringt. „Das Geld wurde stetig weniger“, sagt Adamova. „Aber würde ich alleine leben, bekäme ich diese Härten viel deutlicher zu spüren.“ Sie müsste von ihrem Ersparten leben, weil sie keinen Anspruch auf Grundsicherung hat. Stattdessen hat sie ihre Ersparnisse in Genossenschaftsanteile investiert und bringt ihre monatlichen Einkünfte in die gemeinsame Kasse ein. Hieraus bestreiten die Kommunard*innen ihre alltäglichen Ausgaben, zum Beispiel für Lebensmittel, Strom und Heizung.
„Wenn ich ein schlechtes Gewissen bekomme, weil ich weniger Geld einbringe, dann versuche ich, das zum Thema zu machen“, erzählt die Kommunardin. „Und das hilft: Ich bekomme viel positives Feedback, dass ich sehr präsent bin in der Gemeinschaft und meinen persönlichen Beitrag leiste. Abgesehen davon muss ich manchmal einfach akzeptieren, dass es eben nicht anders geht.“ Arbeit für die Gemeinschaft macht sie weiterhin sehr gerne, zum Beispiel wenn es um Gespräche mit Interessierten geht. „Ich gehöre immer noch genauso dazu, wie vor meinem Schlaganfall. Ich werde einbezogen, führe viele Gespräche und bin dankbar für unseren Austausch in der Villa Locomuna.“
Dankbar ist sie auch für die neuen Welten, die sich ihr nach dem Schlaganfall eröffnet haben. Sie kann inzwischen viel besser Kontrolle abgeben und Dinge einfach geschehen lassen: „Früher war ich eher leistungsorientiert. Heute nehme ich das, was kommt, eher als Geschenk wahr.“ Im Rahmen ihrer Therapien hat sie ein neues Bewusstsein entwickelt für die Prozesse in ihrem Körper, ihre Spiritualität hat sich vertieft: „Ich habe heute eine andere Beziehung zur Welt um mich herum.“
In Zukunft möchte sie sich wieder mehr in politische Zusammenhänge einbringen, an Veranstaltungen und Demonstrationen teilnehmen. Auch die Vernetzung mit anderen Kommunen liegt ihr am Herzen. Wie ihr Leben außerhalb der Kommune aussehen würde? Das möchte sie sich gar nicht mehr vorstellen.
Der Artikel erschien erstmalig im Magazin RehaTreff (04/2015).