Der Anarchismus und die Revolution

Als ich begann, mich mit dem Anarchismus auseinanderzusetzen, war ich erstmal ziemlich beeindruckt: Er brachte so viel von dem auf den Punkt, was mich damals umtrieb. Enlich fand ich Worte für meine Wünsche und Ideale, konnte mit anderen darüber ins Gespräch kommen und Pläne schmieden. Aber, und das ist schwer zu leugnen, die anarchistische Bewegung ist marginal. Sie ist weit entfernt von einer wie auch immer gearteten Revolution. Muss das wirklich so sein?

In seinem Buch „Anarchismus und Revolution“ geht Gabriel Kuhn genau dieser Frage nach. Er sammelt darin Gespräche und Aufsätze, um die zeitgenössische anarchistische Bewegung einer Bestandsaufnahme zu unterziehen: Wie sieht es aus mit ihrem revolutionären Anspruch? Wie kann sie gesellschaftlich intervenieren, ohne zu viele Kompromisse einzugehen? Und warum ist es sinnvoll, anarchistische Praxis und Theorie auch deutlich als solche zu benennen?

Auch wenn – oder vielleicht gerade weil – ich bei der Lektüre einige Fragezeichen im Kopf hatte, konnte das Buch mir wichtige Impulse geben. Ich konnte überprüfen, welche Relevanz der Anarchismus in meiner politischen Arbeit hat und welche Ziele ich damit eigentlich verfolge. Macht es z.B. Sinn explizit anarchistische Politgruppen zu gründen oder sollten Anarchist*innen lieber versuchen, ihre Ideen in möglichst unterschiedlichen Bereichen einzubringen? Wie weit sollten wir uns abgrenzen, wenn es darum geht, mit anderen Aktivist*innen zusammenzuarbeiten? Was ist wichtiger: die eigene Identität oder das gemeinsame Ziel?

Anarchismus als gemeinsamer Name

Kuhn schlägt vor, den Anarchismus als Namen für ein großes Netzwerk zu nutzen, in dem sich verschiedene Gruppen und Bewegungen versammeln können. Ohne die verschiedenen Kämpfe abzuwerten, betont er die Wichtigkeit einer solchen Gemeinsamkeit. Denn nur so sei es möglich, die nötige Stärke für gesellschaftliche Veränderungen zu entwickeln. Kuhn warnt davor, dass eine vielfältige Bewegung schnell auch zu einer diffusen und schwachen Bewegung werden kann, weil sie keinen kollektiven Druck aufbauen kann. Wenn sich jedoch verschiedene Kämpfe vereinen und unter einem gemeinsamen Label erscheinen, werden sie eher als große und schlagfertige Bewegung „. wahrgenommen. Als Beispiel dafür nennt er die „Labelpolitik der Zapatistas.

Der Anarchismus hätte dabei klare Vorteile gegenüber anderen Begriffen. Kuhn geht vor allem auf den lange währenden Konflikt zwischen Marxist*innen und Anarchist*innen ein. Ausführlich beschreibt er, warum er den Anarchismus für den vielversprechenderen Ansatz hält: So habe dieser eine stärkere Kritik der Autorität formuliert und ein besonderes Augenmerk auf die kulturellen Aspekte von Machtausübung gelegt. Statt nicht-proletarische Kämpfe zu Nebenschauplätzen zu degradieren, betonten Anarchist*innen die Komplexität von Herrschaftsverhältnissen – was sich gut mit intersektionalen Ansätzen kombinieren lässt.

Anarchie im Hier und Jetzt

Im Gegensatz zur deterministischen Geschichtsdeutung des Marxismus, setze der Anarchismus auf den Willen und die Gestaltungsmacht der Menschen. Gleichzeitig existiere eine gewisse Grundskepsis gegenüber den „Wundern der Technologie“. Und: Der Anarchismus habe eine starke praktische, präfigurative Dimension, d.h. Anarchist*innen versuchen schon im Hier und Jetzt so zu leben, wie sie es in ihrer Utopie tun würden – auch wenn die Rahmenbedingungen noch ganz andere sind. Dies äußere sich in ganz vielfältigen und kreativen politischen Ausdrucksformen.

Gleichzeitig brauche der Anarchismus aber mehr theoretische Auseinandersetzung und revolutionäre Strategien, so Kuhn. Denn seine größte Schwäche sei das Fehlen eines überzeugenden Revolutionskonzeptes. Weder ein Ausstieg aus der Gesellschaft, noch eine Reform der herrschenden Verhältnisse sei befriedigend, ebenso wenig wie der Aufstand, der sich nur auf kurze Momente unmittelbarer Ermächtigung konzentriert. Auch auf den bevorstehenden Kollaps zu warten, ist für Kuhn keine Option. Nichts desto trotz sei der Einfluss anarchistischer Ideen aber stärker als allgemein angenommen. Die anarchistischen Ursprünge vieler Errungenschaften seien lediglich aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verschwunden sind (z.B. beim Acht-Stunden-Tag, Veganismus oder Kritik der Heterenormativität). Die Spuren der anarchistischen Bewegung seien überall. Und daran können wir anschließen.

Risse im System vertiefen

Um unser politisches Ziel zu erreichen, nämlich dass alle Menschen so viel Freude wie möglich am Leben haben, brauchen wir eine Gegengesellschaft, die die Risse im heutigen System vertieft und gleichzeitig ein Netz des entschlossenen Widerstands knüpft. Dafür braucht es Bündnisarbeit, auch wenn diese ein ständiger Balanceakt ist: Allianzen erfordern Kompromisse und dabei besteht immer die Gefahr, den revolutionären Anspruch aufzugeben. Und die anarchistische Utopie beinhaltet nun mal ein radikales Nicht-Einverständnis mit der Welt, so wie sie ist.

Es könne trotzdem nicht die Lösung sein, sich immer wieder abzugrenzen und dabei die Gemeinsamkeiten mit anderen Gruppierungen aus den Augen zu verlieren. Eine individuelle anarchistische Lebenshaltung, die auf die eigene Idenität pocht, wird die Verhältnisse nicht ins Wanken bringen. Genauso wenig wie ein anarchistischer Lifestyle, der ausgefeilte Verhaltens- und Sprachkodizes voraussetzt, um Teil der Szene zu werden. Stattdessen fordert Kuhn mit einem Zitat von Oskar Lubin: „Rein in die Kräfteverhältnisse!“

Anarchistische Reizthemen: Regeln & Pflichten

Dafür braucht es anarchistische Organisationsstrukturen, die sich vor allem durch Horizontalität, Repräsentationskritik und Selbstverwaltung auszeichnen. Eine „Ich mach was ich will“-Haltung, die teilweise mit Anarchisms verwechselt wird, ist für eine erfolgreiche Organisierung allerdings nicht hilfreich. Revolution braucht Spaß und individuelle Freiheit, aber ohne ein gewisses Maß an Verantwortung und Vertrauen geht es nicht. Ich muss mich auf meine Mitstreiter*innen verlassen können. Dann brauche ich auch keine Gesetze. Kuhn plädiert für ein föderatives Modell mit Bezugsgruppen als kleinster Einheit. Gleichzeitig sollten Anarchist*innen sich in breiten gesellschaftlichen Organisationen engagieren, um aus der gesellschaftlichen Isolation auszubrechen.

Spannend und für die eigene Arbeit besonderes hilfreich fand ich die Thematisierung von Problemen der anarchistischen Bewegung, z.B. die Demonstration moralischer Überlegenheit, die manchmal sogar dazu führt, dass das Aufzeigen persönlicher Defizite anderer wichtiger wird als die politische Veränderung. Müssen wir uns wirklich gegenseitig beweisen, wie anarchistisch wir sind? Ich glaube, dass dieses ausschließende Moment dazu führt, nur noch in der eigenen Suppe zu schwimmen. So kritisiert auch Kuhn eine nicht zu unterschätzende Konformität und Homogenität der Bewegung, die dem politischen Ziel einer diversen und solidarischen Gesellschaft entgegensteht. Zudem bestehe häufig ein Unterschied zwischen denjenigen, die gegen Ungerechtigkeit kämpfen und denjenigen, die unmitelbar davon betroffen sind. Wie können wir diesen Graben überwinden?

Persönliche Pläne vs. politische Projekte

Mit Blick auf die starke Fluktuation in vielen anarchistischen Gruppen, stellt sich eine weitere spannende Frage: Glauben wir wirklich daran, dass unsere politische Arbeit zu radikaler gesellschaftlicher Veränderung führen könnte? Wie es scheint, tun wir das nicht. Denn die meisten Menschen geben ihre persönlichen Pläne (Studium, Job, etc.) nicht auf, um an einem politischen Projekt weiterzuarbeiten. Das ist völlig nachvollziehbar – und macht etwas sehr deutlich: Bisher ist es nicht gelungen, eine Vision bzw. die nötigen kollektiven Strukturen zu schaffen, die Menschen ein Vertrauen in die Zukunft geben. Wie können wir unsere persönlichen und ökonomischen Bedürfnisse erfüllen jenseits der Angebote, die uns der Kapitalismus macht?

Kuhn schließt das Buch mit der mutigen Überschrift „Was ist zu tun“, um dann einige der erwähnten Punkte noch einmal zusammenzufassen. Auch wenn ich es bedenklich finde, wenn ein Mensch die nächsten Schritte für eine Bewegung vorgeben möchte („Anarchist*innen müssen…“), versuche ich seine Punkte als Vorschläge anzunehmen und mit meiner politischen Arbeit abzugleichen. Was davon halte ich für sinnvoll? Wie könnte ich zu einer erfolgreicheren Organisierung beitragen?  Welche Probleme erkenne ich wieder, welche habe ich selbst erlebt? Und welche Anregungen möchte ich versuchen umzusetzen?

Ich schätze, genau darauf kommt es an: Es zu versuchen. Denn – und das ist eine meiner Lieblingsstellen in diesem Buch – schlimmer als daran zu scheitern, eine bessere Gesellschaft aufzubauen, ist nur, es nicht einmal zu versuchen. Wir müssen es für möglich halten, unsere Träume wahr werden zu lassen. Und unsere Träume müssen die Träume von vielen sein, ansonsten werden aus Freigeistern niemals Revolutionäre.

 

Weitere Artikel von mir zum Thema Anarchismus:

Bericht vom A-Camp in Österreich (2016): „Eine Reise ohne Rückfahrtschein“

Rezension von Anarchismus Hoch 3: „Anarchie ist machbar, Frau Nachbar!“ (2017)

Eine Einführung: „Jenseits von Staat und Kapital“ (2016)

„Keine Angst vor Anarchismus“ (2012)

2 Kommentare zu „Der Anarchismus und die Revolution

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