Es war eine erschreckende Erkenntis, als ich mit 27 langsam zu realisieren begann, wie wenig ich eigentlich über meinen Körper weiß. Ich hatte die Pubertät schon lange hinter mir gelassen, ich hatte ein Studium und drei längere Beziehungen hinter mir. Doch da sollte noch einiges kommen: Schmerzen und unangenehme Stimmungsschwankungen, Unsicherheit und Ratlosigkeit, aber auch ein anderes Körpergefühl und eine neue Nähe zu mir selbst und anderen.
Wenn ich mich daran erinnere, was ich während der Schulzeit über meinen Körper* gelernt habe – sei es im Unterricht, zu Hause oder in einschlägigen Magazinen, kann ich nur sagen: Es war nicht mal ein Bruchteil von dem, was ich hätte erfahren können und sollen. Für mich war es völlig normal, irgendwann die Pille zu nehmen, um zu verhüten. Auf alles andere wollte ich mich nicht verlassen. Und naja, Kondome standen einfach nicht so hoch im Kurs. Über Geschlechtskrankheiten habe ich mir bei meinen ersten Freunden wenig Gedanken gemacht, schließlich hatten sie bisher genauso wenig sexuelle Erfahrung wie ich. Und irgendwie dachte ich: Das kann ich ihm doch nicht zumuten – jedes Mal so ein Ding überzuziehen! Die Pille war die sicherste Variante und ich wollte auf gar keinen Fall schwanger werden. Das war für mich das größte Horrorszenario.
Wie die Pille eigentlich funktioniert, habe ich mir erst viel später einmal durchgelesen. Dass sie einen Eisprung unterbindet und die körpereigene Hormonproduktion drosselt, fand ich dann schon ein wenig abstrus, aber was soll’s. Sie leistete mir schließlich gute Dienste – dachte ich zumindest. Nach einigen Jahren fragte ich verschiedene Frauenärztinnen, ob es nicht besser sei, die Pille irgendwann mal abzusetzen, wegen der Hormone. Die einhellige Antwort war: „Da machen Sie sich mal keine Sorgen, die sind heutzutage so gering dosiert, da kann gar nichts passieren.“ Von wegen.
Die volle Wucht der Hormone
Als ich nach über zehn Jahren aufhörte, die Pille zu nehmen, merkte ich erst, was ich da jahrelang betrieben hatte. Ich hatte meinen Körper ruhig gestellt, meinen Hormonhaushalt künstlich am Laufen gehalten und ganz viele Empfindungen gedeckelt. All das kam dann mit Mitte 20 mit voller Wucht auf mich zu – oder vielmehr: aus mir heraus. Mein Hormonhaushalt war völlig durcheinander. Erschwerend kam hinzu, dass ich einige Jahre unter einer Essstörung** gelitten hatte und deswegen untergewichtig gewesen war. Auch damit hatte ich meinem Körper alles andere als einen Gefallen getan. Er lief auf Sparflamme und steckte seine Energie nicht in Dinge, die er nicht zum Überleben brauchte, z.B. Sexualität und Fortpflanzung. Hätte ich die Pille in dieser Zeit nicht weiter genommen, hätte ich meine Regel wahrscheinlich gar nicht mehr bekommen.
Zwar hatte ich schon wieder zugenommen, als ich die Pille absetzte, aber mein Körper brauchte noch viel Zeit, um sich selbst wieder zu regulieren und seinen eigenen Rhythmus zu finden. Nach ungefähr zwei Jahren bekam ich das erste Mal wieder meine Regel. Davor und auch kurz danach ging alles noch ziemlich drunter und drüber: Stimmungsschwankungen und Unterleibsschmerzen kamen immer wieder, aber ich konnte sie überhaupt nicht einordnen. Manchmal bin ich fast verrückt geworden, weil ich nicht wusste, was mein Körper eigentlich von mir will. Ich hatte schlimme depressive Phasen und wusste nicht, mit ihnen umzugehen. Ich fühlte mich kraftlos und konnte mein bis dahin „normales Pensum“ nicht mehr erfüllen, z.B. regelmäßig Sport machen. Das wiederum schlug sich in bzw. auf meinem Selbstwert nieder, der stetig geringer wurde. Ich fühlte mich wie in einer Achterbahn, die zu schnell fährt. Mir wurde ständig übel, aber ich konnte nicht aussteigen. (Es sei denn, ich nähme wieder die Pille, wie meine Frauenärztin mir zu meinem Entsetzen riet!)
Meinen Körper beobachten
Meine Therapeutin empfahl mir, meine Beobachtungen aufzuschreiben und dadurch zu versuchen, einen Zyklus zu erkennen, um langsam ein Gefühl dafür zu bekommen, was in meinem Körper abgeht. So richtig gelang das erst, als ich tatsächlich meine Regel wieder bekam. Seitdem führe ich ein Tagebuch und notiere dort körperliche Veränderungen und meine Körpertemperatur, die ich morgens vor dem Aufstehen messe. Mit Hilfe von Büchern, Videos und Gesprächen mit Freund*innen habe ich mich langsam vorgearbeitet in die Materie Zyklus – und war überrascht, was für ein komplexes System dahinter steckt. Vielleicht stand es mal in irgendeinem Bioligie-Buch, aber ich wusste nicht einmal mehr, aus welchen Phasen ein Zyklus besteht, geschweige denn was währenddessen passiert. Es hatte einfach keine Rolle gespielt. Doch jetzt, wo mein Körper und ich uns wieder selbst überlassen waren, wollte ich alles wissen: Welche Hormone gibt es? Was ist PMS? Was brauche ich wann? Es gab Momente, in denen mich eine große Traurigkeit darüber ergriff, wie lange ich all das ignoriert hatte – und sogar dagegen gearbeitet hatte. Mit künstlichen Hormonen und zu wenig Nahrung hatte ich meinen Körper daran gehindert, seinen natürlichen Funktionen nachzugehen und das zu tun, was gut für mich ist.
Inzwischen hat sich wieder eine gewisse Regelmäßigkeit eingestellt, aber manchmal bin ich immer noch ein wenig überfordert, wenn ich mir Empfindungen und plötzliche Emotionen nicht erklären kann. Vielleicht habe ich auch deswegen angefangen, noch andere Wege zu gehen. Wege, auf denen ich nicht immer für alles eine Erklärung haben muss, sondern die Dinge auch einfach mal so lassen kann, wie sie gerade sind.
Achtsamer leben
Über Yoga und einem Seminar in einem buddhistischen Kloster bin ich bei Achtsamkeit und Akzeptanz gelandet. Große Themen, die mich täglich vor neue Herausforderungen stellen. Trotzdem ist es toll, wie viel auch schon kleine Übungen im Alltag bringen können. Ich versuche, jeden Tag ein oder zwei Mal zu meditieren und mich mit Themen zu beschäftigen, die mich darin bestärken, sei es durch Bücher, Artikel, Videos oder Seminare. Oft kommen sie aus ganz unterschiedlichen Richtungen, aber es ist interessant, wie oft es um ähnliche Grundlagen geht. So ist mir das Thema Achtsamkeit inzwischen auch schon im Aktivismus begegnet, was ich für eine sehr vielversprechende Kombination halte.
Mein Körper und ich verstehen uns nun wieder besser. Ich nehme seine Botschaften besser wahr und manchmal verstehe ich sie sogar. Oft regt er mich auf, weil er nicht tut, was ich will oder was ich erwarte. Und dann übe ich mich darin, das zu akzeptieren. Ich habe in den letzten zwei Jahren noch einige Kilo zugenommen und dachte oft, dass ich das nicht aushalte. Ich konnte den Anblick nicht ertragen und wollte schnellstmöglich wieder abnehmen. Das geht inzwischen aber nicht mehr so einfach, weil ich dafür zu viele Einschränkungen in Kauf nehmen müsste. So kann ich z.B. Sexualität inzwischen ganz anders wahrnehmen und genießen, weil mein Körper wieder er selbst sein darf, d.h. mit eigenen Hormonen, mehr Kalorien und weniger Kontrolle. (Kondome finde ich inzwischen übrigens auch mehr als zumutbar!)
Gesellschaftliche Strukturen reflektieren
Das Thema Essstörung ist ein ganz eigenes und deshalb werde ich es in diesem Artikel nicht ausgiebig behandeln. Nur so viel: Es ist eine Herausforderung – und das gilt nicht nur für Menschen, die eine solche Krankheit haben – an den eigenen Ansprüchen und Mustern zu arbeiten und gleichzeitig die gesellschaftlichen Anforderungen wahrzunehmen und kritisch zu reflektieren, die ständig auf uns einprasseln. So merke ich zum Beispiel, dass ich es an manchen Tagen nicht gut ertragen kann, durch eine Innenstadt zu laufen und überall die Werbeplakate, die Schaufenster und auch die anderen Menschen zu sehen. Unweigerlich fange ich an, mich zu vergleichen – und was dabei herauskommt, wissen wahrscheinlich viele aus eigener Erfahrung. Also nehme ich mir die Freiheit und meide solche Eindrücke, wenn ich merke, dass ich mich nicht gut fühle und unsicher bin.
Stattdessen versuche ich, mein Selbstmitgefühl zu stärken und mir eine Umgebung zu schaffen, in der ich mich wohlfühle. Dazu gehört auch, mich mit anderen über solche Themen auszutauschen – und zu merken, dass ich damit nicht alleine bin. Es ist schon erstaunlich, dass ungefähr die Hälfte der Menschen jeden Monat menstruiert und es im Alltag und in der Öffentlichkeit einfach keine Rolle spielt. Natürlich, es gibt Werbung für Menstruationsartikel, aber mal ehrlich: Was haben ein paar Tropfen blauer Flüssigkeit auf einer Slip-Einlage damit zu tun, was bei uns passiert? Nicht viel.
Wir sind nicht jeden Tag gleich
Es geht nicht darum, das richtige Produkt zu finden, dass unser Blut aufsaugt. (Ich nutze übrigens ein Moon Cup) Es geht darum, ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass Menschen nicht jeden Tag gleich sind. Auch diejenigen, die nicht menstruieren, sind dem Diktat der Leistungsfähigkeit ausgesetzt, d.h. sie müssen allzeit bereit und stark und glücklich sein. Das sind wir aber nicht. Menschen haben Bedürfnisse, Empfindungen, schlechte und gute Tage. Wir brauchen mal dies, mal das. Und das ist ok. Was wir ganz und gar nicht brauchen, sind Leistungsdruck, Perfektionismus und Normen.
Ich habe zu lange versucht, meinen Körper genau daran anzupassen. Das hat zwar eine Weile funktioniert, aber der Preis dafür war hoch. Es lebt sich anders, seitdem ich die Zügel etwas gelockert habe und offener bin für das, was in mir geschieht. Es ist oft herausfordernd, kompliziert, anstrengend und ungewiss. Es ist aber auch freudiger, abwechslungsreicher und leidenschaftlicher als früher. Ich lebe intensiver und authentischer. Ich bin dankbar, das alles noch lernen zu dürfen.
* Ich bin eine weiße heterosexuelle Cis-Frau. Das ist in dieser Gesellschaft mit Privilegien verbunden und schränkt meine Sichtweise zwangsläufig ein.
** Sicher kann mensch sich über die Definition von diesen Krankheitsbildern streiten. So machen sie Gesundheit und Krankheit z.B. hauptsächlich am Body Mass Index (BMI) fest, an dem es von unterschiedlichen Seiten Kritik gibt. Ich benutze trotzdem den Begriff der Essstörung, weil es sich für mich inzwischen nach einem passenden Begriff anfühlt. Seltsamerweise kam mir der Begriff auch immer leichter über die Lippen als die Bezeichnung „Magersucht“.