In den letzten zwei Jahren hat sich im deutschsprachigen Raum eine neue Idee verbreitet: »Solidarity City«. Unter diesem Slogan haben sich in bislang 18 Städten und einem Landkreis Initiativen gegründet, die versuchen, praktische Antworten auf die Fragen nach einem guten Leben in der eigenen Stadt zu finden. Ausgehend von der prekären Situation Geflüchteter, die oft noch nicht mal ihre Grundbedürfnisse erfüllen können, sollen selbstorganisierte und solidarische Strukturen dafür sorgen, dass alle Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können.
»Klingt das eher nach einem Zukunftstraum?« fragt die Autorin Antje Dieterich in ihrem einführenden Beitrag. Absolut. Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – zieht das Konzept der »Solidarity City« immer mehr Menschen in seinen Bann: Zum einen hat es einen Bezug zu praktischer Unterstützungsarbeit, wenn es zum Beispiel um bezahlbaren Wohnraum, Gesundheitsversorgung oder Deutschkurse geht. Zum anderen verbirgt sich dahinter eine politische Vision; eine Strategie, die der Ausgrenzungs- und Abschottungspolitik auf Bundes- und europäischer Ebene etwas entgegensetzen kann.
Die Gruppen und Aktivist*innen, die sich im Solidarity City-Netzwerk versammeln, nutzen dabei ganz unterschiedliche Ansätze. So steht in einigen Städten der Kampf gegen Abschiebungen im Vordergrund, zum Beispiel mit Kampagnen zum Bürger*innen-Asyl, mit praktischer Unterstützung für Kirchasyl oder mit der Beratung von Menschen, die zeitweise ein illegalisiertes Leben führen müssen. Andernorts werden konkrete Maßnahmen ausprobiert, wie die Ausgabe einer »Urban Citizenship Card«, die den Menschen Zugang zu allen möglichen Dienstleistungen einer Stadt gewährt (Seite 12), auch wenn sie keine offiziellen Papiere vorweisen können. Zentrale Elemente der solidarischen Städte sind Partizipation jenseits von demokratischen Wahlen und ein neues Verständnis von Zugehörigkeit, wie die Initiative »Wir alle sind Bern« betont (Seite 10).
Im Zuge der Geschehnisse in Chemnitz, der Seebrücken-Demonstrationen und offiziellen Verlautbarungen von Städten wie Köln, Wuppertal und Berlin, Geflüchtete aufnehmen zu wollen, bekam der Ruf nach solidarischen Städten noch einmal spürbar Aufwind.
Im Zuge dessen muss sich das Netzwerk der Solidarity Cities aber auch mit strategischen Fragen auseinandersetzen (Seite 11), zum Beispiel wie das Verhältnis und eine etwaige Zusammenarbeit mit der Kommunalpolitik aussehen kann. Oder ob es tatsächlich machbar ist, die Trennung von unterschiedlichen Akteur*innen einer Stadt aufzuheben? Bisher lag ein starker Fokus der solidarischen Städte auf der Situation von Geflüchteten, obwohl das Konzept eigentlich dazu aufruft, weiter zu denken. Antje Dieterich schreibt dazu: »Unter unseren Nachbar*innen finden sich jede Menge unterdrückte Gruppen, die im täglichen Leben in der Stadt ähnliche Erfahrungen machen müssen.« (Seite 9) Anstatt gegen langame und vermeintlich mächtige Regierungen anzukämpfen, könnten die Solidarity Cities etwas schaffen, das sich außerhalb – oder besser parallel – von nationalstaatlichen Zusammenhängen für Veränderungen einsetzt.
Einen Eindruck von diesen Veränderungen vermittelt unser Schwerpunkt. Wir berichten unter anderem von bundesweiten Aktionstagen der Solidarity Cities, die Anfang September in fünf Städten stattgefunden haben (Seite 10). Außerdem beleuchten wir den Stand und die strategischen Perspektiven des Netzwerks und stellen Initiativen aus Frankfurt, Hamburg und Bern vor.
Dieser Artikel stand auf der Titelseite der Contraste Nr. 409 (Oktober 2018) mit dem Schwerpunkt „Solidarity Cities“. Zum Contraste-Archiv >>
Ein Kommentar zu „Eine solidarische Stadt für alle“