Meine Motivation, gemeinsam und solidarisch zu wirtschaften, speist sich vor allem aus der Idee, dass ich heute so leben kann, als wäre die Welt schon so, wie ich sie mir wünsche. Reale Utopie sozusagen. Natürlich ist das Augenwischerei – die Welt ist ganz und gar nicht, wie ich sie mir vorstelle. Gerade erst habe ich gelesen, dass 42 Menschen genauso viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung (rund 3,7 Milliarden Menschen).
Hinter diesen Zahlen verbirgt sich eine Ungerechtigkeit, die so normal geworden ist, dass ich einerseits wütend und andererseits hoffnungslos werde. Kann ich oder können wir daran überhaupt noch etwas ändern?
Wenn ich daran nicht mehr glauben würde (zumindest zeitweise), dann könnte ich mir das Gerede von der realen Utopie auch sparen. Vielleicht sähe mein Leben dann ganz anders aus. Stattdessen versuchen meine Mitstreiter*innen und ich mit der gemeinsamen Ökonomie, die Ungerechtigkeit unseres Wirtschaftssystems im Kleinen auszuhebeln. Wer wenig verdient oder besitzt, hat den gleichen Zugang zu Ressourcen wie die, die viel verdienen oder besitzen. Alles allen! Die Erfüllung unserer Bedürfnisse ist nicht mehr davon abhängig, ob wir eine bestimmte Gegenleistung erbringen.
Konsequent weiter gedacht stoßen wir damit auf eine Kritik der gesamten Tauschlogik, eine der Grundlagen des Kapitalismus. Wieso muss ich überhaupt irgendeine Gegenleistung erbringen, wenn ich etwas essen will? Wieso kostet es mich Geld, wenn ich mich waschen oder zur Toilette gehen will? Wieso bezahle ich dafür, wenn mir jemand die Haare schneidet? Es wäre doch genauso gut vorstellbar, dass wir uns als Gemeinschaft zusammentun und gemeinsam dafür sorgen, dass unsere Bedürfnisse erfüllt werden, ohne Äquivalente tauschen.
Waren und Dienstleistungen verlieren dann zwar ihren „Tauschwert“, aber nicht ihren Wert. Sie sind für mich immer noch wertvoll, weil ich sie brauche und weil ich sehe, dass andere Menschen sie mir zur Verfügung stellen. Statt Tätigkeiten und Gegenstände miteinander zu verrechnen, fließt alles in die Gemeinschaft. Das sichert uns ab – was uns wiederum in die Lage versetzt, unseren Teil beizutragen, z.B. als Gärtnerin, Wassermonteurin oder Friseur.
In Ansätzen wird dieses Konzept schon gelebt, z.B. beim Move Utopia, ein Netzwerk-Treffen von sozialen Bewegungen, das komplett tauschlogikfrei organisiert wird, oder in den Interkomm-Regionen im Wendland und der Region Kassel. Die Kommunen lassen z.B. Kartoffeln, Apfelsaft oder Beratungen untereinander „fließen“, ohne sie zu verrechnen. Das ist nicht nur unkomplizierter, sondern fördert auch andere Formen von Beziehungen. Vertrauen spielt hier eine größere Rolle als Kontrolle. Das funktioniert aber nur, wenn ich mich gut versorgt fühle. Wenn ich Angst habe, dass meine Vorräte nicht reichen oder irgendeine externe Rechnung nicht bezahlt werden kann, wird es mitunter eng. Dann kann ich nicht einfach geben, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Außerdem braucht es wohl immer ein gewisses Gefühl von Gerechtigkeit. Ich will nicht dauerhaft mehr geben als andere, es sollte sich ausgeglichen oder zumindest sinnvoll anfühlen.
Ich bin mir sicher, dass auch Menschen außerhalb von solchen Projekten dieses Konzept schon lange in die Tat umsetzen. Alle tun Dinge, ohne dafür eine Gegenleistung zu bekommen, sei es in der Familie, in der Nachbarschaft oder im Verein. Vielleicht entspricht uns diese Art von Geben und Nehmen viel mehr als die Tauschlogik des Kapitalismus, die Menschen ausschließt, sobald ihre Kaufkraft nicht mehr groß genug ist.
Trotzdem sind wir meilenweit davon entfernt, unsere Gesellschaft tauschlogikfrei zu organisieren. Dabei hätten wir alles, was wir brauchen – und es wäre genug für alle da. Es gäbe nicht mehr 42 Superreiche, während Millionen von Menschen hungern. Vielleicht klingt Ihnen das alles ein wenig zu naiv – oder zu utopisch. Eine nette Idee, die nicht funktionieren würde, denken Sie. Aber warum eigentlich nicht? Weil wir alle von Natur aus gierig und egoistisch sind? Selbst wenn dem tatsächlich so wäre, was ich nicht glaube, wäre es doch umso sinnvoller, Strukturen aufzubauen, die unsere Fähigkeit zur Kooperation statt den Hang zur Konkurrenz fördern, oder?
Heute sieht die Welt noch ganz anders aus. Ich weigere mich aber, das einfach zu akzeptieren. Ich kann und will mir weiterhin ein Ende des Kapitalismus vorstellen. Und irgendwo muss dieses Ende anfangen…
Diese Kolumne erschien zuerst in der Ausgabe 7/19 von OXI – Wirtschaft anders denken. Link: oxiblog.de