Stellen Sie sich einmal vor, nicht Ihre Chefin würde entscheiden, wie viel Geld Sie verdienen, sondern Sie selbst – gemeinsam mit Ihren Kolleg*innen. Sie könnten sich überlegen, wie viel Sie zum Leben brauchen und auch wie viele Stunden Sie dafür aufwenden wollen.
Und stellen Sie sich weiter vor, Sie könnten mitentscheiden, wie Sie Ihren Beruf ausleben, welche Aufträge Sie annehmen und welche nicht – und Sie könnten sich mit den Themen beschäftigen, die Ihnen wirklich am Herzen liegen. Sie wären im Austausch mit ihren Kolleg*innen, auch über private Angelegenheiten – und könnten auf einen solidarischen Zusammenhalt im Betrieb zählen.
Wenn Sie einen solchen Job schon haben – herzlichen Glückwunsch! Wenn nicht, dann mache ich Ihnen nun ein spezielles Angebot: Arbeiten im Kollektiv.
Seit einigen Jahren steigt das Interesse an dieser selbstorganisierten Form der Arbeit wieder stetig an. Parallel zur Startup-Euphorie gründen Menschen wieder Kollektive, weil sie keine Lust auf hierarchische Strukturen haben, weil sie mitgestalten und vielleicht auch konkrete Utopien aufbauen wollen. In Berlin gibt es inzwischen wieder eine Vielzahl solcher Betriebe in den unterschiedlichsten Bereichen, z.B. Beratung & Bildung, Essen & Trinken, Medien, Übernachtung oder Transport. Nachdem Kollektive in den 1980er Jahren einen Boom erlebt haben, kehren sie nun langsam wieder als vielversprechende Alternativen zuück. Rechtsform und konkrete Umsetzung unterscheiden sich teilweise erheblich, trotzdem steht immer ein gleichberechtiges Miteinander ohne Chef*innen im Mittelpunkt.
Vor kurzem habe ich ein Technik-Kollektiv kennengelernt, das neben Bauplanung und Bildungsarbeit auch praktische Workshops anbietet. Die fünf Kollektivistinnen haben in ihren Arbeitsbereichen (z.B. Maschinenbau) keinen Job gefunden, der ihren Ansprüchen genügen konnte. Sie plädieren für eine Technik, die sich an ökologische, soziale Bedingungen und an die Nutzer*innen anpasst. Statt ausschließlich auf Effizienz zu setzen und mit einer Standardlösung viel Geld zu verdienen, ist es ihnen wichtig, gesellschaftliche Themen wie Umweltschutz, Kapitalimuskritik oder Mietenpolitik in ihre Arbeit einfließen zu lassen. Seit sieben Jahren arbeiten sie nun schon erfolgreich zusammen und wirtschaften dabei in eine gemeinsame Kasse, aus der sie sich ihre Einkommen nach Bedarf auszahlen. Ihre Situation ist stabil, wenn auch auf einem niedrigen Lohnniveau.
In meinem eigenen Kollektiv (ein Café in Kassel) bezahlen wir uns hingegen nach Stunden – wobei alle den gleichen Stundenlohn bekommen, unabhängig von der Tätigkeit. Müsste ich einen bestimmten Bedarf anmelden, würde mir das schwer fallen, obwohl ich das Prinzip der Bedürfnisorientierung grundsätzlich gut finde. Aber welcher Bedarf ist angemessen? Was brauche ich wirklich, um gut leben zu können? Und wie sieht meine Lebenssituation im Vergleich mit den anderen Kollektivist*innen aus? Können wir uns auf Bedarfe einigen, die wir nachvollziehen und gemeinsam tragen können? Spannende Fragen, die den gewohnten Zusammenhang von Leistung und Einkommen auf den Kopf stellen (wobei ja auch im Kapitalismus nicht jede Arbeit mit einem angemessenen Einkommen belohnt wird).
Mit Kapitalismuskritik soll und will nicht das große Geld gemacht werden. Kollektive haben andere Prioritäten und funktionieren anders als ein konventioneller Betrieb. Deshalb kämpfen viele in prekären Verhältnissen und bieten nicht die gleiche Sicherheit wie eine Beschäftigung in einem großen Unternehmen. Widerstand gegen die üblichen Marktmechanismen braucht einen langen Atem und oft auch die Bereitschaft, mit weniger zurechtzukommen. Doch je mehr Kollektive sich gründen, umso größer wird der Kreis von Menschen, die sich gegenseitig unterstützen und langfristige Lösungen finden können, z.B. im Hinblick auf die Altersvorsorge der Kollektivist*innen. Die Berliner Kollektive vernetzen sich deshalb untereinander und bauen untereinander solidarische Strukturen auf.
Na, sind Sie neugierig geworden? Suchen Sie nach einer Möglichkeit, Ihre Kritik am Kapitalismus mal in die Praxis umsetzen und Hierarchien abzubauen statt die Karriereleiter hochzuklettern? Dann suchen oder gründen Sie doch ein Kollektiv! Wir werden es brauchen, wenn sich an unserem Wirtschaftssystem irgendwann etwas ändern soll.
Mehr dazu lesen: www.kollektiv-betriebe.org
Kollektivbetriebe in Kassel: www.kasseler-kollektive.org
Diese Kolumne erschien zuerst in der Ausgabe 9/19 von OXI – Wirtschaft anders denken. Link: oxiblog.de