Das ist eine etwas seltsame Frage für jemanden, der oder die sich schon lange mit dem Thema beschäftigt – und sich selbst als ziemlich selbstorganisiert bezeichnen würde. Trotzdem ist es nicht schlecht, hin und wieder mal einen Schritt zurückzutreten und sich anzuschauen, was mensch eigentlich so treibt. Selbstorganisation – was bedeutet das ganz konkret? Wie funktioniert das? Und wie schlägt sich das in meinem Alltag nieder?
Ich lebe in einer politischen Kommune, arbeite in einem Kollektiv und koordiniere die CONTRASTE – Monatszeitung für Selbstorganisation. Das sind ganz gute Startvoraussetzungen für einen kleinen Exkurs in die Sphären der Selbstorganisation. Und doch war es eine kleine Herausforderung, das Thema Menschen näher zu bringen, die mit dem Begriff vielleicht noch keine (bewussten) eigenen Erfahrungen gemacht haben. Ich sage „bewusst“, weil ich davon ausgehe, dass sich alle Menschen irgendwann irgendwie schon einmal selbstorganisiert haben, sei es in der Familie, in der Nachbarschaft, im Verein oder im Freund*innenkreis.
Im Grunde ist Selbstorganisation das Gegenteil von hierarchischen Strukturen. Das heißt, Entscheidungen werden nicht einfach von einer Person getroffen, weil sie eine bestimmte Position innehat, sondern Entscheidungen werden von jenjenigen getroffen, die betroffen sind – und zwar gemeinsam. Diese Entscheidungen werden im besten Fall von allen getragen und auch umgesetzt, wobei das nicht heißen muss, dass alle alles machen müssen. Zumindest wird aber die Verantwortung gemeinsam getragen.
Keine „neoliberale Selbstverantwortung“
Wichtig: Mit Verantwortung ist hier nicht die „neoliberale Selbstverantwortung“ gemeint, die auf Vereinzelung und Konkurrenzdenken setzt. Vielmehr geht es um Verantwortung im Sinne von freier Kooperation: Niemand soll auf sich alleine gestellt sein im Umgang mit den Herausforderungen des Lebens. Strategien der Selbstorganisation sollen allen zugänglich gemacht werden. Eine schöne Vorstellung, nicht wahr? An dieser Stelle wird die inhaltliche Verknüpfung zu vielen sozialen Bewegungen deutlich. Der solidarische Umgang, der vielen Projekten und Initiativen zugrunde liegt, ist gleichzeitig ein Pfeiler der Selbstorganisation. Es geht nicht darum, als Individuum (auf Kosten anderer) möglichst erfolgreich zu sein und sich zu optimieren, sondern gemeinsame Strukturen aufzubauen, die das große Ganze und somit die Einzelnen stärken. Ob in einem Kollektiv, in einem Hausprojekt, bei der Nachbarschaftsinitiative oder der Mieter*innegemeinschaft – die Menschen wollen gemeinsam dafür sorgen, dass es allen besser geht.
Selbstorganisatierte Projekte geben sich nicht länger damit zufrieden, Forderungen zu stellen an den Staat, an Eltern, Kirche oder sonstige Obrigkeiten. Auch wird die eigene Stimme nicht delegiert an eine*n Vertreter*in. Selbstorganisation entspricht mit ihren Entscheidungsstrukturen eher einer Basisdemokratie als einer repräsentativen Demokratie. Es werden Wege gesucht, um die eigenen Forderungen direkt umzusetzen, anstatt darauf zu hoffen, dass jemand anderes die Umsetzung ins Rollen bringt oder mich in die Lage dazu versetzt. Wir können uns klar machen, dass wir schon heute in vielen Bereichen in der Lage, unsere Vorstellung eines guten Lebens Realität werden zu lassen.
An dieser Idee knüpft u.a. auch die Solidarity City-Bewegung an. Bei einem Treffen von Interessierten durfte ich vor kurzem über Selbstorganisation sprechen – und erntete an vielen Stellen begeistertes Kopfnicken. Das Konzept der solidarischen Stadt geht davon aus, dass allen Bewohner*innen einer Stadt ein würdevolles Leben ermöglicht werden soll und zwar unabhängig von finanziellen Mitteln, Aufenthaltsstatus, Herkunft, Sprachkenntnissen, Familienstand, sexueller Orientierung, … Wer in einer Stadt lebt, sollte dort u.a. einen Zugang haben zu Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Bildung, Kunst und Kultur, Mobilität und sozialem Miteinander. De facto ist das nicht der Fall. Also lautet die Frage: Wie können wir daran etwas ändern? Hier in Kassel gibt es schon eine Menge Projekte, die genau daran arbeiten. Einige Initiativen unterstützen z.B. geflüchtete Menschen dabei, in Kassel anzukommen, auch wenn sie noch keinen gesicherten Aufenthalt haben.
Grenzen der Selbstorganisation
Nicht nur bei der Unterstützung von Geflüchteten wird leider aber auch immer wieder deutlich: Selbstorganisation stößt an Grenzen, an innere und an äußere.
In Kassel werden täglich Menschen abgeschoben – sie bekommen gar nicht erst die Möglichkeit, sich hier ein Leben aufzubauen, sondern werden gezwungen, das Land zu verlassen, und an einen Ort gebracht, an dem sie nicht sein wollen. Es ist schwer, dagegen Widerstand zu leisten, weil es so viele Ressourcen und Informationen braucht. Und so stehen Unterstützer*innen oft nur fassungslos und hilflos daneben, wenn ein Mensch von der Polizei abgeführt wird.
Und auch in weniger existenziellen Fragen wird die Selbstorganisation immer wieder herausgefordert, z.B. vom deutschen Rechtssystem. Im Grunde gibt es keine Rechtsform, die der Selbstorganisation gebührend Rechnung trägt. In Vereinen und Genossenschaften braucht es einen Vorstand, also eine formelle Hierarchie. Es ist außerdem nicht vorgesehen, dass Unternehmen keinen Gewinn machen – das gilt auch für Genossenschaften.
Wir haben Selbstorganisation nicht gelernt!
Hinzu kommen die Schwierigkeiten, die in selbstorganisierten Projekten selbst zu Tage treten, denn: Wir haben Selbstorganisation nicht gelernt! Jahrelang wurden wir in hierarchischen und/oder kapitalistischen Strukturen sozialisiert und diese Erfahrungen und Prägungen legt mensch nicht mal eben so zur Seite. Das Beispiel der Entscheidungsfindung – ein ganz zentrales Thema in der Selbstorganisation – zeigt deutlich, dass es eine Reflexion der eigenen Verhaltensweisen und mitunter eine ganz neue Perspektive auf Gruppenprozesse braucht:
In den meisten selbstorganisierten Projekten werden Entscheidungen inzwischen im Konsens getroffen, während wir in unserer repräsentativen Demokratie mit Mehrheitsentscheidungen aufwachsen. Dabei hat es enorme Vorteile, Entscheidungen so zu treffen, dass alle sie mittragen können. Es findet mehr Austausch statt und es fließt (konstruktive) Kritik in eine Entscheidung mit ein – sie wird am Ende also nachhaltiger und kreativer. Es gibt keine Minderheiten, die übergangen werden und im Nachhinein Widerstand gegen eine Entscheidung leisten – das trägt auch zum Gruppengefühl bei. Informelle Hierarchien werden vermieden, wenn es nicht nur darum geht, eine Mehrheit hinter sich zu bringen – denn das gelingt manchen Menschen einfach leichter als anderen, weil sie lauter, sichtbarer oder überzeugender sind. Natürlich braucht es für Konsens-Entscheidungen mitunter aber mehr Zeit und auch andere Methoden.
Hier heißt es: üben, üben, üben – und sich kritisch auseinandersetzen mit Gruppendynamiken. Wie sieht unser Redeverhalten aus, wer redet viel, wer redet wenig und warum? Kann ich eigentlich wirklich zuhören und meinen Gegenüber verstehen? Wie können wir unser soziales Miteinander gestalten, damit wir bei sachlichen Themen nicht aneinander geraten? Was bedeutet es, die Verantwortung für meine Wünsche und Widerstände zu übernehmen?
Warum ein Sozialplenum sinnvoll sein kann
Methodisch haben selbstorganisierte Gruppen bereits einiges ausprobiert und weiterentwickelt, wir müssen das Rad nicht mehr neu erfinden: Moderationshilfen, Redner*innenlisten, rotierende Verantwortlichkeiten, Runden, Stimmungsbilder, … und inzwischen setzt sich auch immer mehr die Einsicht durch, das ein Sozialplenum hilfreich sein kann, um zwischenmenschlichen Themen den Platz einzuräumen, den sie brauchen, um die Gruppe nicht latent zu belasten. Hier können z.B. die Rollenverteilungen in der Gruppe oder informelle Hierarchien diskutiert werden.
Vielleicht wird eine Entscheidung manchmal auch gar nicht getroffen, weil es keinen Konsens gibt. Und ja, diese Herangehensweise lässt sich möglicherweise auch nicht mal eben so skalieren. Ob die repräsentative Demokratie auf nationaler und globaler Ebene funktioniert, mag ich aber genauso in Frage stellen, wenn ich mir vor Augen führe, welche Entscheidungen in den Parlamenten wie getroffen werden und wie viele Menschen nicht wählen gehen oder sich gar nicht mehr repräsentiert fühlen.
Wahrscheinlich eignet sich die kommunale Ebene gut, um solche Dinge auszuprobieren und in die Tat umzusetzen. Hier funktioniert größtenteils noch ein Face-to-Face-Prinzip. Hier treffen Politik und Alltag aufeinander. Hier betreffen uns die meisten Entscheidungen. Vor Ort kennen wir uns aus und können Wirkmächtigkeit entfalten – wichtige Erfahrungen für eine Selbstorganisation, die langfristig über das eigene Hausprojekt oder den eigenen Verein herausgehen soll. Denn: Wir wollen ja größer werden! Wir wollen möglichst vielen Menschen einen Zugang zu selbstorganisierten Strukturen ermöglich und nicht nur unserer Bezugsgruppe, sondern allen ein gutes Leben ermöglichen.
Siehe auch: http://deu.anarchopedia.org/Selbstorganisation
Noch mehr Beispiele für Selbstorganisation: www.contraste.org
„Solidarity Cities“ in Deutschland: www.solidarity-city.eu