Trainieren für den Marathon

Im letzten Monat schrieb ich an dieser Stelle über das Konzept des „Buen Vivir“, des guten Lebens für alle, und seine Ursprünge im indigenen Südamerika. Eine Frage, die mich dabei bewegte, war, inwiefern sich dieses Konzept auf unseren Alltag im Globalen Norden übertragen lässt. Ideen, die das Wirtschaftswachstum und unsere Vorstellung von (materiellem) Wohlstand in Frage stellen, werden hier vor allem mit „Verzicht“ in Verbindung gebracht – ziemlich zu Unrecht, wie ich finde.

Jetzt, wenige Wochen, aber viele Ereignisse später, finde ich mich in einem enormen Zwiespalt wieder: Wie kann ich von einem guten Leben reden, während ich in den Nachrichten eine erschütternde Meldung nach der anderen höre? Wie kann ich mich damit beschäftigen, mein (wenn auch nicht-materielles) Wohlbefinden zu steigern, während ich mit dem Leid anderer Menschen konfrontiert bin?

Im Grunde war dieser Zwiespalt einmal der Grund dafür, dass ich überhaupt politisch aktiv geworden bin. Ich konnte nicht verstehen, wie ein Teil der Menschen sich ein nettes Leben machen kann und gleichzeitig andere Menschen an Hunger sterben. Das ist eine zugespitzte und vereinfachte Sicht auf die Dinge – nichts desto trotz beschäftigt mich diese Frage bis heute. Die erste, naheliegendste Antwort darauf war: „Das geht so nicht. Da müssen wir doch etwas gegen tun!“ Also habe ich versucht, Wege zu finden, mich gegen (wirtschaftliche) Ungleichheit zu engagieren. Irgendwann reichte mir das „dagegen“ nicht mehr und ich habe begonnen, mich mit möglichen Alternativen zu beschäftigen. Ich wollte wissen, wie es anders gehen könnte, wie wir so wirtschaften können, dass alle Menschen ein würdiges Leben führen können.

Inzwischen habe ich eine Vorstellung davon, wie unsere wirtschaftlichen Strukturen aussehen könnten, ohne auf Ausbeutung und Konkurrenz zu beruhen. Leider ist mein politisches Dilemma dadurch aber eher noch größer geworden: Wenn ich davon überzeugt bin, dass wir es anders machen könnten, wenn wir nur wollten, ist es noch schwieriger, die mitunter sehr grausame Realität zu akzeptieren.

Ich sehe in den sozialen Medien zum Beispiel Bilder von der griechisch-türkischen Grenze und frage mich, in was für einer Welt ich lebe. Plötzlich erscheint mir all das Engagement völlig sinnlos. Wieso weiter machen? Wird es je genug sein? In solchen Momenten erscheint es mir geradezu anmaßend, mir Gedanken über (m)ein gutes Leben zu machen. Es gibt so viel zu tun, so viele Kämpfe, die gekämpft werden wollen, so viele Kampagnen, die Aufmerksamkeit brauchen, so viele Menschen, die ein berechtigtes Anliegen haben und Unterstützung suchen. Wo soll ich da anfangen? Und wo soll ich aufhören?

Wegen solcher Fragen habe ich mich im vergangenen Jahr viel mit dem Thema „Nachhaltiger Aktivismus“ beschäftigt. Der langjährige Umweltaktivist Timo Luthmann hatte dazu gerade ein umfangreiches Handbuch veröffentlicht. Der Begriff zielt ab auf einen Aktivismus, der langfristig denkt und die eigenen Ressourcen nicht überstrapaziert. Es geht darum, wie ich meinen Aktivismus gestalte, damit ich nicht die Kraft und den Mut verliere und auch in zehn Jahren noch dabei bin.

Zunächst fühlt es sich wie ein Widerspruch an: Auf der einen Seite droht die Welt unterzugehen und auf der anderen Seite soll ich besser für mich selbst sorgen. Was spielt es denn für eine Rolle, wie es mir geht? Ich habe inzwischen gelernt, dass es eine wichtige Rolle spielt. Die Welt wird nicht besser, wenn meine Energie verloren geht, wenn ich mich fertig mache und in Depressionen versinke. Gefühle von Ohnmacht, Wut und Trauer sollten einen Platz haben – sie zu ignorieren macht keinen Sinn. Doch es sollte auch Raum geben für Freude, Zuversicht und Schönheit. Lange klang das für mich nach einer sehr privilegierten Sicht auf die Dinge.

Aber ich möchte mit meinem Aktivismus die kapitalistischen Glaubenssätze von „immer mehr, immer schneller, immer besser“ nicht reproduzieren – auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht, als könnten wir nur so unsere Ziele erreichen. Wir werden die globalen Probleme nicht mit den gleichen Prinzipien lösen, die uns all die Probleme erst eingebracht haben. „Unsere Erwartungen von unmittelbaren Ergebnissen sind kulturell bedingt und wir müssen diesem Einfluss mit einer anderen Erzählung begegnen“, schreibt Luthmann. „Soziale Veränderung ist kein Sprint, sondern ein Marathon.“

Timo Luthmann: Politisch aktiv sein und bleiben. Handbuch Nachhaltiger Aktivismus. Unrast Verlag, Mai 2019, 424 Seiten, 19,80 Euro

Diese Kolumne erschien zuerst in der Ausgabe 04/20 von OXI – Wirtschaft anders denken. Link: oxiblog.de

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