Die Fesseln des globalen Marktes sprengen

Im Welthandel ist Fairness kein moralisches Prinzip, sondern ein instrumentelles Kriterium. Formale Chancengleichheit soll dafür sorgen, dass alle Länder sich vorteilhaft auf dem Markt positionieren und Gewinne machen können. Die Realität sieht allerdings anders aus: Während die Weltwirtschaft massiv wächst, lebt ein Großteil der Weltbevölkerung noch immer in Armut. Es braucht Kooperation statt Wettbewerb.

Selbst Ökonom*innen geben zu, dass sich die Realität in einem Modell nicht vollständig abbilden lässt. Umso erstaunlicher ist es, dass für die Theorie des internationalen Handels immer noch das so genannte Ricardo-Modell grundlegend ist (siehe Infokasten). Moralische Bewertungen spielen in diesem Modell im Grunde keine Rolle. Lohndumping und Ansprüche von Arbeiter*innen sind zum Beispiel kein relevantes Thema. Die einzig relevante Frage lautet: Findet Handel statt – ja oder nein? Denn die Bevölkerung würde in noch größerer Armut leben, wenn es die Möglichkeit zum Außenhandel nicht gäbe.

Die internationalen Handelsinstitutionen setzen sich entsprechend des Ricardo-Modells für Handelsliberalisierung und Multilateralismus ein. Die Prinzipien von Meistbegünstigung und Reziprozität sollen dabei sicherstellen, dass Handelsabkommen zu einem fairen Ausgleich führen: Handelsvorteile, die ein Land einem anderen gewährt, müssen für alle Länder gleichermaßen gelten. Verhandlungen sollen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit und zum wechselseitigen Nutzen erfolgen. Das gilt auch für die so genannten Entwicklungsländer, die mithilfe des freien Marktes in den globalen Handel integriert werden sollen – damit auch sie von ihm profitieren.

Eine moralische Idee

Sabine Frerichs, Professorin für Wirtschaftssoziologie an der Universität Wien, schrieb in einem Artikel für die Bundeszentrale für politische Bildung: „Der globale Freihandel ist nicht zuletzt eine moralische Idee. Nach der ökonomischen Theorie befördert die Liberalisierung der Märkte eine effizientere Arbeitsteilung zwischen den Volkswirtschaften der Welt, die Wohlstandsgewinne für alle verspricht.“

Dieses Versprechen stellten in den 1960er Jahren schon die Dependenztheorien in Frage, die auf Folgen des Kolonialismus und imperialistische Hierarchien im Welthandel aufmerksam machten. Die Kluft zwischen Industrie- und Entwicklungsländern sei systemimmanent: Der globale Kapitalismus sei zugunsten der Industrieländer verzerrt und ließe die Entwicklungsländer zwangsläufig an strukturelle Grenzen stoßen.

Und tatsächlich haben sich die Versprechen des Freihandels in der Realität nicht erfüllt. Das zeigen zum Beispiel die jährlichen Berichte zu sozialer Ungleichheit von Oxfam. Demnach verfügen gut 2.000 Milliardär*innen über mehr Vermögen als 60 Prozent der Weltbevölkerung zusammen. Über die Hälfte der Menschheit lebt in Armut, das heißt von weniger als 5,50 Dollar am Tag. Drei Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung und drei Viertel aller Arbeitnehmer*innen keinen Zugang zu sozialer Sicherung.

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts setzen Politiker*innen und Ökonom*innen nun schon auf Liberalisierung und Entwicklung – das Ergebnis sind zwar hohe Gewinne, allerdings nur für sehr wenige.

Kooperation statt Wettbewerb

Soziale Bewegungen und alternativ-ökonomische Ansätze versuchen daher, einen anderen Blick auf Wirtschaft zu werfen: Was wäre, wenn unsere Wirtschaft kein Wettbewerb mehr wäre? Dann ginge es nicht mehr um faire Regeln in einem Kampf von jedem gegen gegen, sondern um Kooperation zwischen gleichberechtigten, wenn auch unterschiedlichen Partner*innen. Statt eines freien Marktes stünden unsere Beziehungen im Mittelpunkt – nicht nur zu anderen Menschen, sondern auch zu unserer natürlichen Umwelt. Das Ziel wäre nicht länger, einen möglichst hohen Profit zu erwirtschaften, sondern die Bedürfnisse von allen Beteiligten zu erfüllen. Kurz: Die leitenden (moralischen) Handlungsregeln würden sich verändern.

Im globalen Süden hat sich seit den 1990er Jahren der Post-Development-Ansatz entwickelt, der viele dieser Ideen aufgreift und zu konkretisieren versucht. Autor*innen wie Gustavo Esteva, Arturo Escobar, Wolfgang Sachs und Majid Rahnema formulierten eine grundlegende Kritik am westlichen Entwicklungs- und Wachstumsparadigma. Sie plädieren für einen Alternative zu Entwicklung und legen dabei den Fokus auf lokale Strukturen und das Wissen von Graswurzelorganisationen und (indigenen) Gemeinschaften im globalen Süden – ein Perspektivwechsel von den Profiteur*innen zu den Leidtragenden des Systems.

Wiederaneignung der Wirtschaft

Der PD-Ansatz bietet keine universell anwendbaren Lösungsansätze an, denn das würde seiner Kritik an hegemonialem Wissen widersprechen. Stattdessen sollen die Menschen vor Ort gemeinsame und basisdemokratische Entscheidungen darüber treffen, wie für sie ein gutes Leben aussähe, und sich die wirtschaftlichen Strukturen wieder aneignen. Das bedeutet zum einen, die Vielfältigkeit der lokal existierenden Wirtschaftsformen anzuerkennen und zu nutzen. Wirtschaft soll wieder den eigenen Lebensunterhalt sichern, statt Gewinne zu erwirtschaften. Zum anderen sollte der Blick darauf gerichtet werden, wie lokale Ressourcen von globalen Kräften angeeignet werden. An welchen Stellen findet ein ungleicher Tausch statt? Welche globalen Hierarchien wirken bei der Aneignung? Um sich von den ökonomischen Fesseln und vom Prinzip des Mangels des Marktes zu befreien, sollten Dörfer und Nachbarschaften sich wieder commons, also Gemeingüter schaffen, die sie gemeinsam nutzen. Mit den vorhandenen Ressourcen wird dann das realisiert, was möglich ist. Die Menschen definieren ihre Bedürfnisse wieder selbst. Indem sie Handel und Produktion außerhalb der Marktregeln organisieren, entdeckten und stärkten sie ihre Autonomie wieder.

Was bedeutet eine solche lokale Wiederaneignung für den globalen Handel? Es ist weder realistisch noch wünschenswert, die Globalisierung komplett zurückzudrehen. Doch statt von einem universellen Wirtschafts- und Entwicklungssystem auszugehen, müssen lokale Wirtschaftsformen und ihr sozialer Kontext anerkannt werden. Und es können andere Leitlinien gelten: verlässliche, solidarische und gleichberechtigte Beziehungen zwischen Handelspartner*innen, in denen Menschen nicht als homo oeconomicus sondern als Teil einer Gemeinschaft und ihrer Umwelt gesehen werden. Diese Beziehungen dienen der Bedürfnisbefriedigung, nicht dem Profit, und stärken lokale Autonomie und Diversität.

Allerdings reicht es nicht, wenn ein solcher Perspektivenwechsel nur im globalen Süden stattfindet. Anknüpfungspunkte gibt es zum Beispiel zur Degrowth-Bewegung, die für den globalen Norden unter anderem eine Reduktion von Konsum und Emissionen auf ein nachhaltiges Niveau fordert. Sie kritisiert den Wachstumszwang und strebt einen kulturellen Wandel hin zu Achtsamkeit, Solidarität und Kooperation an. Eine Vernetzung von diesen sozialen Bewegungen könnte dem globalen Kapitalismus etwas entgegensetzen und die moralischen Bezugspunkte auch für den Welthandel neu setzen.

Quellen:

Frerichs, Sabine (2016). Prinzipien des Welthandels. URL: https://www.bpb.de/politik/wirtschaft/freihandel/233277/prinzipien-des-welthandels

Konzeptwerk Neue Ökonomie & DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Hrsg.) (2017). Degrowth in Bewegung(en) – 32 alternative wege zur sozial-ökologischen Transormation. München: oekom.

Krugman, P.R. & Obstfeld, M. (2006). Internationale Wirtschaft: Theorie und Politik der Außenwirtschaft (7. Aufl.). München: Pearson Studium.

Münch, R. (2011). Das Regime des Freihandels: Entwicklung und Ungleichheit in der Weltgesellschaft. Frankfurt am Main: Campus Verlag.

Oxfam (2021): Soziale Ungleichheit. URL: https://www.oxfam.de/unsere-arbeit/themen/soziale-ungleichheit

Ricardo, D. (1980). Grundsätze der politischen Ökonomie und Besteuerung. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Ausgabe 3/21 von OXI – Wirtschaft anders denken. Link: oxiblog.de

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