Eine Antwort auf HNA-Kommentar

Das Bündnis „Rheinmetall entwaffnen“ hat vom 30. August bis 4. September sein Camp in der Kasseler Goetheanlage aufgeschlagen und eine Vielzahl von Aktionen organisiert. Der HNA-Redakteur Axel Schwarz schrieb dazu am 3. September einen Kommentar, der meiner Meinung nach so nicht stehen bleiben kann. Deshalb habe ich eine Antwort formuliert:

Sehr geehrter Herr Schwarz,

mit Verlaub: Wer hatte noch mal die Idee, Ihren Kommentar zu den Protesten von „Rheinmetall entwaffnen“ in einer Zeitung abzudrucken? Aus journalistischer wie aktivistischer Sicht mangelt es Ihrem Text nicht nur an stichhaltigen Argumenten, sondern auch an einer realistischen Einschätzung der Weltlage. Ja, ein Kommentar erlaubt Journalist*innen ihre Meinung zu äußern. Im besten Fall sollte sie allerdings begründet werden, sodass Leser*innen der Meinungsbildung folgen können – oder auch nicht.

Ihr „Kommentar“ hingegen trieft nur so vor persönlicher Abneigung gegen diese Aktivist*innen, die es sich herausnehmen, das „Gesamtsystem“ zu kritisieren. Das stößt Ihnen anscheinend bitter auf, schon aus Prinzip. Dass dieses System nicht nur Kriege provoziert, sondern auch unsere Umwelt zerstört und somit für den Tod unzähliger Menschen verantwortlich ist, sind nur einige Hinweise darauf, dass dieses Gesamtsystem inzwischen mehr als ausgedient hat. Es ist den Aktivist*innen nicht vorzuwerfen, sondern im Gegenteil zugute zu halten, dass sie die Problematik der Rüstungsindustrie in einen größeren Zusammenhang einordnen. Es wäre doch viel zu leicht, nur die Firmen für ihr Geschäftsmodell zu kritisieren.

„Wir arbeiten am Aufbau einer vielfältigen, breiten Bewegung gegen Aufrüstung, Waffenproduktion und Krieg. Klimakatastrophe und Krieg sind zwei Seiten derselben Medaille: Kapitalismus!“, hieß es in einer Pressemitteilung von Rheinmetall entwaffnen im März 2022. Ja, es geht um Kapitalismus – lassen wir ihn doch beim Namen nennen. Deswegen reihen sich die Proteste in Kassel auch in eine Vielzahl anderer Aktionen ein, die Sie verächtlich als „Polit-Bambule-Szene“ bezeichnen. Warum so von oben herab, Herr Schwarz? Schauen Sie denn keine Nachrichten? Unsere Lebensgrundlagen werden unwiederbringlich zerstört, die steigenden Preise bedrohen die Ernährungssicherheit ganzer Bevölkerungsgruppen und die Politiker*innen betreiben nichts als Augenwischerei und Umverteilung von unten nach oben, während den Bürger*innen eine „Gratismentalität“ unterstellt wird. Wäre es nicht beängstigend, wenn die Menschen in dieser Situation nicht auf die Straße gehen und lautstark ihren Protest äußern? „LNG-Terminals verhindern“ ist kein Schlachtruf – es ist ein Gebot der Stunde, um dafür zu sorgen, dass auch die jüngeren Generationen auf diesem Planeten noch leben können.

Und ja, natürlich geht es um Aufmerksamkeit – und zwar für dringende und legitime Anliegen. Auch deshalb haben sich die Aktivist*innen für die documenta-Stadt Kassel entschieden. Damit sind sie ja auch bei weitem nicht die einzigen, die den Hype der Kunstausstellung nutzen wollen. Mit welchem Argument kann mensch ihnen das vorwerfen? Diese „moralistisch beseelten Kampfgeister“, wie Sie sie nennen, haben eine fundierte Kritik an der Kasseler Rüstungsindustrie, mit der Sie sich augenscheinlich nicht im Geringsten auseinandergesetzt haben. Sonst wäre Ihr Kommentar nicht so platt geraten. Kassel ist leider kein völlig austauschbarer Schauplatz – dafür müssten Sie sich nur einmal die vielen Fotos anschauen, die im Rahmen des „Rheinmetall entwaffnen“-Fotowettbewerbs schon eingesendet worden sind. Wo sonst rollt am späten Abend schon mal ein Panzer durch die Straßen?

Apropos Panzer: Die Goetheanlage war während des Camps mitnichten eine No-Go-Area, sie war weiterhin offen für alle – auch und gerade für Anwohner*innen. Sie wurden von den Veranstalter*innen sogar explizit eingeladen. Dass der Lärm die sonntägliche Ruhe gestört hat, war im Übrigen der Stadt Kassel zu verdanken, die den ursprünglichen Aufbauplan verhindert hat. Das breite Workshop-Programm gab mehr als genug Gelegenheiten, in den Austausch zu kommen. Waren Sie denn einmal dort und haben ein Gespräch geführt? Oder wussten Sie aufgrund Ihrer langjährigen journalistischen Erfahrung bei der HNA schon vorher, dass Sie nichts als „Bürgerkriegsrhetorik“ zu erwarten haben?

Glauben Sie wirklich, dass es Menschen, die ein solches Camp organisieren, nur um sich selbst geht? Vielleicht fragen Sie beim nächsten Mal – wenn Sie vor Ort sind – die eine oder andere Aktivistin, wie viele Stunden sie in die Vorbereitung gesteckt hat, an wie vielen Treffen sie teilgenommen hat, wie viele Telefonate sie geführt und wie viele Mails sie geschrieben hat, damit diese Veranstaltung gelingt. Dieses Engagement als „Abenteuerurlaub“ herabzuwürdigen, ist respektlos.

Ja, natürlich gab es „Störungen“ im städtischen Alltag. Es gab Polizeihubschrauberlärm – den haben aber wohl kaum die Aktivist*innen zu verantworten. Es gab blockierte Hauptstraßen – zeitweise und im Rahmen des Versammlungsrechts. Mit Blick auf die Auswirkungen der vielen Krisen, mit denen wir schon heute konfrontiert sind (ausgetrocknete Flüsse, brennende Wälder, zehn Prozent Inflation), kommt es ein wenig lächerlich daher, sich ausgerechnet über gesperrte Straßen aufzuregen. Übrigens: Es gab auch jede Menge Inhalte. Auf die gehen Sie aber, wie auch die übrige Berichterstattung in der HNA, leider nicht ein. Vielmehr versuchen Sie, diesen Protest zu delegitimieren – ein überaus undemokratischer Schachzug.

Statt lobend auf die Gastfreundschaft der Kasseler zu verweisen, wäre es angebrachter, die Stadtgesellschaft dazu aufzufordern, sich endlich selbst mit dem kriegstreibenden Gewerbe vor ihrer Haustür zu beschäftigen. Dann müssten dafür vielleicht auch nicht mehrere hundert Aktivist*innen aus anderen Regionen anreisen. Anscheinend brauchen die Kasseler diese „biwakierenden Widerstandskämpfer“, weil sie allein die Zähne nicht auseinander kriegen und immer wieder zu ignorieren scheinen, was innerhalb der Stadtgrenzen so produziert wird. Ihrer Meinung nach bringt ein sechstägiges Protestcamp das „beschauliche Wohnquartier Vorderer Westen“ schon an den Rand der Belastbarkeit. Die Zerstörung ganzer Stadtviertel in anderen Ländern scheint Ihnen hingegen nichts auszumachen? Das nennt man „privilegierte“ Sichtweise – wenn wir uns aussuchen können, ob wir uns mit einem Thema beschäftigen oder nicht, weil wir nicht direkt betroffen sind.

Und noch ein Wort zu Privilegien und Gastfreundschaft: Es sollte nicht vergessen werden, dass nicht alle Menschen in Kassel gleichermaßen willkommen sind. Für Menschen, die aus Kriegsgebieten, in denen deutsches Kriegsgerät zum Einsatz kommt, hierher geflüchtet sind und unter oft unmenschlichen Bedingungen in einer der Sammelunterkünfte am Stadtrand leben, wird das Wort „Gastfreundschaft“ wohl mehr als zynisch klingen. Kriegsgeräte exportieren – ja gerne. Aber den Preis sollen doch lieber andere Menschen an anderen Orten zahlen.

Sehr geehrter Herr Schwarz, vielleicht nehmen Sie jetzt innerlich wenigstens den völlig absurden Vergleich mit der Zahnwurzelentzündung zurück. Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Denn ich muss Ihnen sagen: Einen Kommentar wie diesen braucht die Welt so nötig wie die Bundeswehr ein Sondervermögen.

P.S. Dieser Text ging am 7. September per Mail auch an Axel Schwarz und den HNA-Leserdialog.

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