Geschichten des Gelingens

Es ist nicht schwer, dramatische Geschichten und erschreckende Zahlen zu finden, wenn es um die Themen Flucht, Asyl und Migration geht: Jedes Jahr sterben tausende Menschen an den europäischen Außengrenzen, werden illegal zurückgedrängt oder hangeln sich von einer befristeten Duldung zur nächsten. Es ist kaum vorstellbar, unter welchen Bedingungen die Menschen auf der Insel Lesbos leben müssen, wenn sie die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer überlebt haben. Lukas Geisler war dort und konnte sich selbst ein Bild davon machen. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – versucht er in seinem Buch »Willkommensgesellschaft« andere Geschichten zu erzählen.

In 16 Reportagen stellt er Projekte und Aktivist*innen vor, die beharrlich an einer anderen Kultur des Zusammenlebens arbeiten. In den drei Abschnitten »Grenzräume«, »Teilhabe« und »Aktivismus« berichtet Geisler unter anderem über die Safe-Passage-Werkstatt auf Lesbos, die Seenotrettungsorganisation Mission Lifeline, die Zürcher Initiative »Züri City Card«, eine RefugeeLawClinic und die Gruppe »Together We Are Bremen«. Die beteiligten Aktivist*innen kommen selbst ausführlich zu Wort und berichten von ihren Zielen, ihren Erfahrungen und auch ihren Schwierigkeiten.

In Abgrenzung zu einer bloßen »Willkommenskultur«, wie sie 2015 in Deutschland zeitweise zu beobachten war, geht es den Projekten wie auch dem Autor um eine radikale Veränderung der Verhältnisse. Geisler stellt Akteur*innen des Wandels vor, die seiner Meinung nach an einer Revolution arbeiten, auch wenn sie sich teilweise mit sehr alltäglichen Themen herumschlagen müssen. Doch gerade hier sei das »Heranwachsen des Neuen in den Nischen des Alten« zu beobachten. Nach jedem der drei Abschnitte folgt zudem ein theoretischer Exkurs, der den Blick weitet für die deutsche bzw. europäische Migrations- und Grenzpolitik.

Das Buch ist voll von engagierten Menschen und persönlichen Geschichten, die Hoffnung machen können – und sollen. Denn Geisler geht es auch darum, seine Leser*innen zu motivieren, an der Willkommensgesellschaft mitzuwirken und sie aktiv zu gestalten. Aufgrund der Fülle von Geschichten bleibt für das Kennenlernen der einzelnen Protagonist*innen allerdings eher wenig Zeit. Durch theoretische Bezüge in den Reportagen verschwimmen zudem hier und da die verschiedenen Ebenen. Wahrscheinlich ist es sinnvoll, sich für die kurzen Reportagen jeweils etwas Zeit zu nehmen und sie nicht hintereinander weg zu lesen, damit die Nähe, die diesem Genre innewohnt, auch entstehen kann.

Der Autor wird dennoch seinem Anspruch gerecht, »Geschichten des Gelingens« zu erzählen. Insbesondere für Leser*innen, die sich mit dem Thema noch nicht so intensiv beschäftigt haben, bietet das Buch fundiertes Hintergrundwissen und konkrete Anknüpfungspunkte für Engagement.

Lukas Geisler: Die Willkommensgesellschaft – Eine konkrete Utopie; oekom Verlag, München 2022, 192 Seiten, 24 Euro (18,99 Euro als PDF)

Diese Rezension ist erschienen in CONTRASTE Nr. 461 (Februar 2023).

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