Ein Kampf an verhärteten Fronten

Die beiden Kurdinnen Leyla und Meryem Lacin leben seit über 30 Jahren in Deutschland, trotzdem bleibt ihnen ein gesicherter Aufenthalt bislang verwehrt. Der Grund: Keine Behörde will zuständig sein.

Meryem Lacin hat sichtlich Mühe, den Ausführungen der Richterin zu folgen. Die 64-Jährige schließt immer wieder die Augen und sackt auf ihrem Stuhl zusammen. Mit der rechten Hand hält sie die Krücke fest, die ihr beim Gehen hilft. Im Sitzungssaal 3 des Sozialgerichts Kassel geht es heute um die Frage, wer die Kosten für ihre gesundheitliche Versorgung trägt. Meryem Lacin hat bereits zwei Schlaganfälle und mehrere Herzinfarkte hinter sich. Sie leidet unter Bluthochdruck und Diabetes, war schon mehrfach im Krankenhaus. Was sie hingegen nicht hat, ist eine Krankenversicherung. Zuletzt kam die Stadt Kassel für ihre Behandlungen auf, weil sie in einem Eilverfahren vom Landessozialgericht Hessen dazu verpflichtet wurde. Doch eigentlich sieht sich die Stadt Kassel nicht in dieser Pflicht. Sie verweist auf die Stadt Bayreuth, wo die Familie Lacin Ende der 80er Jahre ihren ersten Asylantrag gestellt hat. Zur heutigen Gerichtsverhandlung wurden daher auch zwei Vertreter*innen aus Bayreuth beigeladen.

Leyla und Meryem Lacin mit Unterstützer*innen vor der Gerichtsverhandlung am Sozialgericht Kassel. Foto: Regine Beyß

Neben der hauptamtlichen Richterin Dr. Jatho nehmen zwei ehrenamtliche Richter*innen an der Verhandlung teil. Sie hören an diesem Tag zum ersten Mal die lange Geschichte der Lacins: 1988 kam Meryem Lacin zusammen mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann und ihren Kindern nach Deutschland. Als Kurd*innen flüchteten sie damals aus der Türkei. Tochter Leyla war zu diesem Zeitpunkt drei Jahre alt. Ihre Asylanträge wurden zwar abgelehnt, zuletzt im Jahr 1998. Eine Abschiebung kam allerdings nie zustande. Rückblickend beschreibt Leyla Lacin die Lebensbedingungen in Bayreuth als menschenunwürdig: „Ich habe 20 Jahre lang in einer schimmelnden Obdachlosensiedlung gelebt, ein abgesonderter Straßenteil, das war einfach nicht mehr auszuhalten.“ Es fällt Leyla sichtlich schwer, über diese Zeit zu reden, immer wieder stockt sie und ringt mit den Tränen. Mutter und Tochter entscheiden sich, ein weiteres Mal zu gehen, dieses Mal nach Hessen. Ab 2011 kommen sie in einem Frauenhaus in Kassel unter, die Plätze kann Amnesty International Frankfurt vermitteln, wo sie um Hilfe bitten. 2017 beziehen die beiden eine eigene Wohnung in Kassel. Hier bauen sich Leyla und Meryem Lacin ein Leben und ein soziales Umfeld auf. Die Tochter organisiert regelmäßig Veranstaltungen zur kurdischen Bewegung und Demonstrationen gegen den Krieg der Türkei gegen die Kurd*innen. Auch in überregionalen politischen Zusammenhängen ist sie aktiv.

2019 beantragt Leyla Lacin eine Arbeitserlaubnis bei der Zentralen Ausländerbehörde (ZAB) Oberfranken, ihr Antrag wird abgelehnt. Wenig später wird diese Entscheidung aber aufgehoben, weil das bayerische Verwaltungsgericht (VG) der Ansicht ist, dass die Ausländerbehörde Oberfranken gar nicht zuständig ist. Die junge Frau bleibt also ohne Arbeitserlaubnis. Wenige Monate später urteilt auch das VG Kassel, für die Lacins nicht zuständig zu sein. Leyla Lacin, sie ist inzwischen 37 Jahre alt, nennt das Ganze „absurd“ und „menschenverachtend“. „Ich habe fast mein ganzen Leben hier in Deutschland verbracht, aber mir werden keinerlei Rechte zugestanden – im Gegenteil musste ich all die Jahre mit der Angst vor einer Abschiebung leben. Und zwar in ein Land, das ich nicht kenne und in dem ich als politisch aktive Kurdin geradewegs ins Gefängnis gehen würde.“

2021 wird – nach über 30 Jahren Aufenthalt – trotzdem eine Abschiebung der beiden Frauen vorbereitet. Die ZAB Kassel organisiert Passersatzpapiere und bittet die Ausländerbehörde Oberfranken darum, Flugdaten für Leyla und Meryem Lacin in die Türkei zu buchen. In Bayern will man allerdings abwarten, bis die Zuständigkeitsfrage endlich geklärt ist. Zwei psychotherapeutische Gutachten bescheinigen den beiden Kurdinnen, dass die gesundheitlichen Folgen einer Abschiebung lebensbedrohlich wären. Aufgrund dessen stellt die ZAB Oberfranken im April 2022 erstmals offizielle Duldungen aus, diese gelten allerdings immer nur für wenige Monate. „Eine langfristige Perspektive bekommen wir nicht“, kritisiert Leyla Lacin. In der Duldung weiterhin festgeschrieben ist auch die Wohnsitzauflage. Das heißt, die Lacins müssten eigentlich wieder nach Bayreuth ziehen, obwohl Kassel seit über elf Jahren ihr Lebensmittelpunkt ist. Auch eine Arbeitserlaubnis bekommt die 35-Jährige weiterhin nicht.

Gearbeitet hat sie trotzdem – schon allein, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Mutter zu sichern. Zwar werden den beiden Leistungen nach Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) ausgezahlt. Doch ab September 2019 werden diese Leistungen gekürzt. Schon die Regel-Leistungen würden dem Bedarf der Betroffenen nicht gerecht, kritisiert die Organisation „Pro Asyl“. Das Leistungsniveau des AsylbLG liege deutlich unterhalb der normalen Sozialleistungen – was zu einer strukturellen Diskriminierung von Asylsuchenden führe. Zwischen Mai und Oktober 2020 werden die Leistungen an die Lacins dann komplett eingestellt.

Im April 2021 verliert Leyla Lacin auch ihren Job beim „Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter“, bei dem sie fünf Jahre lang als Assistentin für behinderte Menschen gearbeitet hat, und zwar mit Wissen der Behörden sozialversicherungspflichtig und mit Lohnsteuerkarte. Da keine offizielle Arbeitserlaubnis vorliegt, verhängt das Zollamt Gießen ein vierstelliges Bußgeld. Der Verein sieht sich gezwungen, eine Kündigung auszusprechen, würde Leyla Lacin aber jederzeit wieder einstellen, wie Mitarbeitende öffentlich immer wieder betonen.

Zu dieser Zeit gründet sich in Kassel eine Unterstützungsgruppe. Die Initiative „Leyla & Meryem bleiben“ formuliert unter anderem einen offenen Brief an die Kasseler Bürgermeisterin für Soziales, Ilona Friedrich. Darin heißt es: „Seit sie in Deutschland leben, werden Leyla und Meryem jegliche Ausweismöglichkeiten verwehrt. Das hat zur Folge, dass sie keinen Zugang zu nötiger Grundversorgung haben. So hat Meryem trotz ihres desolaten Gesundheitszustands keine Krankenversicherung. Nachdem sie mehrere Hirn- und Herzinfarkte überlebt hat, musste sie zuletzt mehrere Herzinfarkte zu Hause auskurieren.“ Die Unterstützer*innen organisieren zwei Gespräche mit Bürgermeisterin Friedrich, dem Leiter der Kasseler Ausländerbehörde und der Leiterin des Kasseler Sozialamts. Darin wurde mündlich zugesichert, berichtet die Initiative, dass die Stadt Kassel den Fall der beiden Frauen übernehmen würde, wenn die Zuständigkeitsfrage geklärt wäre und die bayerischen Behörden einer Überführung des Falls nach Kassel zugestimmt hätten. Nach dem Urteil des VG Kassel seien der Stadt solange die Hände aber gebunden.

Rechtsanwalt Sven Adam, der neben Meryem Lacin im Saal des Sozialgerichts sitzt, hält die Entscheidung des VG Kassel für falsch. „Der gewöhnliche Aufenthaltsort der Lacins ist schon seit über zehn Jahren Kassel und das wird auch so bleiben, weil eine Rückkehr der beiden nach Bayreuth vor allem aufgrund des Gesundheitszustandes der Mutter unzumutbar wäre“, argumentiert der Anwalt. „Somit ist die Stadt Kassel auch zuständig.“ Dieser Argumentation folgen Richterin Jatho sowie die beiden ehrenamtlichen Richter*innen am Sozialgericht Kassel hingegen nicht. Sie verurteilen die beigeladene Stadt Bayreuth zur Zahlung der Sozialleistungen für Meryem Lacin – zumindest für die letzten zwei Jahre. In dieser Zeit hätte die Wohnsitzauflage durchgängig Bestand gehabt. Bayreuth muss nun also die vom Kasseler Sozialamt bereits gezahlten Leistungen erstatten. Sven Adam kündigt gleich nach der dreistündigen Verhandlung an, in Berufung gehen zu wollen, um die örtliche Zuständigkeit zu klären. Immerhin hätte das Gericht aber anerkannt, dass die Lacins inzwischen Anspruch auf Sozialhilfe haben und nicht mehr unter das AsylbLG fallen. Diese Regelung gilt für Menschen, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten.

In der Urteilsbegründung weist die Richterin darauf hin, dass im Hintergrund dieser Verhandlung viele ungeklärte Rechtsfragen stehen. Die eigentlichen Fragen, die der Zuständigkeit und die des Aufenthaltsstatus, werden an diesem Tag nur am Rande diskutiert – denn sie werden an anderer Stelle verhandelt.

Der Frankfurter Rechtsanwalt Markus Künzel vertritt die Lacins in Fragen des Ausländer- und Asylrechts. „Wenn keine der Behörden nachgibt, dann bleibt der Status quo erst einmal erhalten, bis ein Oberverwaltungsgericht die Frage endgültig klärt“, sagt Künzel. Auch er argumentiert mit dem „gewöhnlichen Aufenthaltsort“, in seinen Augen sollte die Stadt Kassel die Zuständigkeit übernehmen. Allerdings sei der gewöhnliche Aufenthaltsort eine alte Kontroverse in der Rechtsprechung – es gebe verschiedene Varianten, wie dieser definiert werden kann. Das Ganze müsste aber nicht zwangsläufig vor Gericht entschieden werden, findet Künzel: „Natürlich könnten sich die Behörden auch untereinander einigen. Es gibt da Spielräume, die nicht genutzt werden.“

Der Anwalt sieht für die Lacins eine Möglichkeit im geplanten Chancen-Aufenthaltsrecht, das Anfang Dezember vom Bundestag beschlossen wurde. Die im Gesetzentwurf geregelte 18-monatige Aufenthaltserlaubnis soll langjährig Geduldeten die Möglichkeit geben, die notwendigen Voraussetzungen für ein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland zu erfüllen. Damit würde für Leyla und Meryem Lacin die Wohnsitzauflage entfallen, und die Tochter bekäme eine Arbeitserlaubnis. Noch sei allerdings nicht klar, wie schnell das Gesetz tatsächlich umgesetzt werde und ob die Lacins die notwendigen Voraussetzungen erfüllen, so Künzel.

Die ausländerrechtliche Akte der Lacins hat inzwischen mehrere tausend Seiten. Dass es so weit gekommen ist, lässt sich für den Anwalt nicht auf einen einzigen Grund zurückführen. „Einer der Faktoren war sicherlich das Behördenverhalten Anfang der 1990er Jahre, als Asyl- und Aufenthaltsrecht rigide beschnitten wurden.“ Aber in einer Geschichte, die sich seit über 30 Jahren hinzieht, werde es natürlich immer schwieriger, nachzugeben. „Alle beteiligten Behörden wollen ihr Gesicht wahren und keine Fehler eingestehen“, sagt Künzel. „Das führt im Ergebnis zu verhärteten Fronten, aus denen niemand mehr rauskommt.“

An diesen Fronten wird die Familie wahrscheinlich noch eine Weile zu kämpfen haben. Dabei wird es unter anderem auch um Pflegeleistungen für Meryem Lacin gehen, die Tochter Leyla inzwischen nicht mehr allein erbringen kann. Bislang konnte ihre Pflegestufe noch nicht einmal ermittelt werden.

Dieser Artikel ist zuerst erschienen in „neues deutschland“ (21.12.2022).

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