»Eine Katastrophe für die Selbstverwaltung«

Seit Anfang Oktober bombardiert die Türkei gezielt zivile Infrastruktur auf dem Gebiet der »Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien«. Aktueller Anlass ist ein Anschlag der PKK in Ankara vom 2. Oktober. Angeblich soll einer der Attentäter aus Nordostsyrien kommen. Beweise gebe es dafür aber keine, kritisiert unter anderem medico international. Mit den Bombardierungen verstoße die Türkei klar gegen das Völkerrecht.

Kurd*innen und solidarische Aktivist*innen versuchen in Deutschland, auf diese Situation aufmerksam zu machen. CONTRASTE-Redakteurin Regine Beyß sprach darüber mit der Initiative »Women Defend Rojava Kassel«.

CONTRASTE: Was wisst ihr über die aktuelle Situation, was berichten euch Genoss*innen vor Ort?

Die Angriffe kommen in einer Zeit, die ohnehin schon eine enorme Belastung für alle Menschen in der Region ist. Wie viele Menschen den aktuellen Angriffen schon zum Opfer gefallen ist, lässt sich noch nicht sagen. Eines der größten Probleme sind die Angriffe auf die zivile Infrastruktur. Kein Wasser, kein Gas, kein Strom – das ist eine Katastrophe für die Selbstverwaltung. Es ist auch nicht auszuschließen, dass die Türkei wieder eine Besatzungswelle starten wird. Es mangelt an allen Enden an Verbündeten, die sich gegen diesen Krieg stellen.

Das ist ja nicht der erste Angriff auf die selbstverwalteten Strukturen in der Region. Was ist diesmal anders?

Die Region und die Selbstverwaltung sind darauf vorbereitet, dass der Krieg immer wieder eskaliert. Er hat ja nie aufgehört, sondern wird nur in unterschiedlichen Intensitäten geführt. Die permanente Bedrohung durch Drohnen ist eines der Hauptprobleme. Die Genoss*innen vor Ort berichten davon, dass man in manchen Regionen 24/7 unter Beobachtung steht. Der türkische Staat tötet mit Drohnenangriffen ganz bewusst Personen, die wichtige Rollen in der Selbstverwaltung spielen. In den letzten Monaten sind so viele Menschen durch Drohnen umgekommen, dass es beinahe zynisch erscheint, erst jetzt wieder von einem Krieg zu sprechen. Und trotzdem sind jetzt bestimmte Rahmenbedingungen anders: Der türkische Außenminister Fidan hat vor laufenden Kameras gesagt, dass dieses Mal »jedes Ziel legitim ist«. Diesmal sind es Kriegsverbrechen mit Ansage, die hier geschehen.

Foto: Regine Beyß

Ihr habt euch entschieden, mehrere Tage in der Kasseler Innenstadt mit einer Mahnwache präsent zu sein. Was war eure Motivation dabei?

Es war nicht einfach, zu entscheiden, welche Formate wir gerade sinnvoll finden. So zerstörerisch die Angriffe gerade sind, so wenig angemessen fühlen sich unsere Aktionen oft an. Leider sind die Zeiten jetzt andere als bei den Invasionen um Kobane oder der Besatzung von Afrin. Damals sind wirklich viele Menschen auf die Straße gegangen und es gab eine sehr aktive Protestkultur in der deutschen Linken, was das Thema betraf. Mittlerweile gibt es so viele Kriegsmeldungen jeden Tag aus der ganzen Welt, dass wir alle damit kämpfen, uns nicht handlungsfähig zu fühlen oder zu resignieren. Es ist schwer, in dieser Stimmung noch große, kraftvolle Demos zu organisieren. Wahrscheinlich sind viele abgestumpft und es fehlt das gemeinsame Bewusstsein, zu bewerten, wann eine Angriffswelle existentiell ist.

Diese ist es wieder einmal. Wenn wir nicht zusammenkommen, Strategien und Aktionen entwickeln, dann wird der Punkt kommen, dass wir auf Rojava zurückblicken. Das soll nicht moralisierend klingen, aber wir denken, dass wir dringend mehr Austausch darüber brauchen, was unsere Perspektive als Internationalist*innen bei all dem ist. Es nützt uns leider gar nichts, wenn wir uns in all den Schreckensmeldungen weltweit verlieren. Die Mahnwache war eine Möglichkeit des Zusammenkommens, die wir geeigneter fanden als die 100. Kundgebung, bei der wir uns am Ende darüber ärgern, dass keine Kraft entsteht.

Zudem ist eines der großen Probleme, dass dieser Krieg medial einfach völlig verschwindet. Es wird traurigerweise in europäischen Medien kaum berichtet und wenn, dann bestehen die Berichte meist aus den Meldungen der türkischen Regierung. Dieses Informationsloch müssen wir dringend aufbrechen. Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass unsere eigene Proteststärke davon abhängig ist, wie präsent Angriffe in der allgemeinen Öffentlichkeit sind. Aus dieser Abhängigkeit müssen wir rauskommen. Wir wollten mit der Mahnwache in der Innenstadt vor allem versuchen, mit Leuten ins Gespräch darüber zu kommen und die Lüge der Terrorbekämpfung von Erdogan aufbrechen.

Habt ihr den Eindruck, ihr konntet mit der Mahnwache Menschen erreichen?

In den drei Tagen haben wir an die 3.000 Flyer verteilt und unzählige Gespräche geführt. Wir alle würden die Mahnwache als gelungen bewerten. Es ist für uns immer wieder beeindruckend gewesen, mit welcher Vielfalt an Geschichten wir bei solchen Formaten in Berührung kommen. Das bringt am Ende ja auch uns weiter. Wir sind der Meinung, dass diese Mahnwache ein wichtiges Puzzleteil in einer Vielfalt von Aktionen sein kann. Nicht nur als Akt der Solidarität, sondern auch als wichtiger Lerneffekt für unsere Politik hier vor Ort.

Was können wir eurer Meinung nach von der Organisierung in Rojava lernen? Abgesehen davon, dass die Lage für die Zivilbevölkerung im Moment verheerend ist: Wieso ist es so wichtig, die Revolution dort jetzt zu verteidigen?

Dass in Rojava vor über zehn Jahren etwas passiert ist, was wir als Revolution bezeichnen, und sich aus einem Aufstand eine tatsächlich bestehende Selbstverwaltung aufgebaut hat, war für die gesamte emanzipatorische Bewegung weltweit enorm wichtig. Das letzte Jahrzehnt war global enorm umkämpft von unterschiedlichsten Bewegungen und wir spüren vor allem in Europa, wie wir als Linke immer weiter an Boden verlieren. Wie wichtig war es da für uns alle, weltweit um eine handvoll Regionen zu wissen, in denen sich die Aufstände weiter entwickelt haben in neue Gesellschaftsmodelle.

Für »Women Defend Rojava« ist natürlich die Frauenbewegung ganz zentral. Sie haben uns gezeigt, was eine Organisierung von Frauen und unterdrückten Geschlechtern tatsächlich für einen Unterschied in einer gesellschaftlichen Bewegung bedeuten kann. Das kann aus unserer Sicht vor allem den Feminist*innen hier eine wirklich große Stütze sein. Natürlich kämpfen wir hier unter anderen Bedingungen, aber die Ansätze der Bewegung sind eine wirkliche Inspirationsquelle.

Warum es so wichtig ist, die Revolution jetzt zu verteidigen, dafür gibt es unzählige Gründe: Dass wir in Europa im Herzen der Kriegsmaschinerie und Ausbeutung sitzen; die scheinbar unzertrennliche Beziehung zwischen der Bundesregierung und dem türkischen Regime; der antistaatliche Vorschlag der Selbstverwaltung für eine ganze kriegsgebeutelte Region und eine politische Perspektive auf die weltweiten Krisen; der Tod unser Genoss*innen; unser internationalistischer Anspruch und revolutionärer Anstand; unsere Wut, unsere Trauer und unsere Freude.

Was können wir hierzulande tun, um die Menschen in Rojava zu unterstützen?

Wir dürfen nicht den Kopf in den Sand stecken, angesichts aller Horrormeldungen jeden Tag. Im Gegenteil, wir müssen zusammenkommen, gruppenübergreifend und offen für alle, die sich organisieren wollen. Wir dürfen die Wirkungsmacht von Aktionen hier nicht unterschätzen. Es wird in Rojava und Kurdistan wahrgenommen, wenn es Proteste in Europa gibt. Wir müssen uns gegen Rolle der Bundesregierung stellen, denn wir sitzen in dem Land, das europaweit mit Abstand die kurdenfeindlichste Politik betreibt. Das kann bedeuten, Abschiebungen zu verhindern, Gefangenensolidarität aufbauen oder den Dialog mit den kurdischen Strukturen hier vor Ort verstärken. Wer die Möglichkeit hat, kann Öffentlichkeit schaffen – sowohl in Medien als auch in der politischen Repräsentation. Wir müssen Wege finden, die Rüstungskooperationen zu beenden und gegen ihre Profiteure vorgehen. Ganz individuell können wir natürlich immer Geld schicken. Der kurdische Rote Halbmond (Heyva Sor) ist immer eine gute Adresse für akute Hilfeleistung.

Dieses Interview ist erschienen in CONTRASTE Nr. 470 (November 2023).

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