Gerechtigkeit statt Polizei

Wie könnte eine Gesellschaft ohne Polizei und Gefängnisse aussehen? Dieser Frage geht Alissa Starodub in ihrem Buch »Ohne Polizei/Gewalt« nach. Die Autorin lehrt derzeit an der Hochschule Fulda zu sozialer und globaler Gerechtigkeit. Aus diesem Blickwinkel betrachtet sie die Institution der Polizei und legt dar, warum Polizei und Justizsystem keine Gerechtigkeit herstellen können. Stattdessen lädt sie dazu ein, Gerechtigkeit und damit auch unser Zusammenleben anders zu denken

Zu Beginn macht Starodub deutlich, mit welcher wissenschaftlichen Methodik sie arbeitet. Es folgt ein Abriss der Entstehungsgeschichte der Polizei in Frankreich, den USA und Deutschland. Allein das ist schon sehr aufschlussreich für alle, denen bisher nicht klar war, dass die Polizei ihre Wurzeln in der Kolonialzeit und der Sklaverei bzw. der Niederschlagung von widerständigen Protesten hat. Auch Kontinuitäten zur NS-Zeit tauchen hier auf.

Darauf aufbauend geht es anschließend um das Verhältnis von Gerechtigkeit, Gewalt und Polizei. Zum Beispiel in einer Situation, über die auch in der CONTRASTE berichtet werden könnte: »Wer die Bauarbeiten für die Privatisierung einer Grundwasserquelle durch einen Konzern sabotiert, das Gelände besetzt, wird durch das Strafrecht mit Hausfriedensbruch bestraft. Die Austragung des gesellschaftlichen Konflikts um die Privatisierung von Wasser, den Umgang mit Ressourcen, wird so vom Staat gelöst, indem dieser festlegt, welche Handlung rechtmäßig ist. Solche Konflikte werden mit Gewalt durch die Polizei ›entfernt‹ (…).« Die Autorin führt aus, warum es Gewalt braucht, um den Ist-Zustand der Gesellschaft zu erhalten – und zwar gegen jene, die entweder nicht bereit oder nicht fähig sind, sich in das System zu integrieren. Das vorherrschende Gerechtigkeitsverständnis gehe davon aus, dass Menschen »einander Gewalt antun müssen, um in Gerechtigkeit leben zu können«.

Ungefähr in der Mitte des Buches wechselt die Autorin das Format und entwickelt Theater-Szenen, die die zuvor dargelegten Theorien veranschaulichen – eine willkommene Abwechslung zu der bis dahin recht trockenen Materie. Es sei allen Leser*innen empfohlen, bis dorthin durchzuhalten! Im letzten Teil des Buches werden konkrete Beispiele von Gesellschaften vorgestellt, in denen andere Formen von Gerechtigkeit bzw. andere Umgangsweisen mit Konflikten gelebt werden oder wurden: in Rojava, im mexikanischen Chiapas sowie in der Zone à défendre (ZAD) in Frankreich.

Am Ende bleiben bei der Autorin und vermutlich auch bei den Leser*innen einige Fragen offen. Denn es reicht nicht, die Polizei zu kritisieren, zu reformieren oder sie vielleicht sogar abzuschaffen. Vielmehr müssen wir uns alle fragen: Was ist für uns Gerechtigkeit? Und was sind wir bereit, dafür zu tun? Das ist ein langer Weg, doch dieses Buch ist ein guter Anfang.

Alissa Starodub: Ohne Polizei/Gewalt. Kritische Theorie & Praxis sozialer Gerechtigkeit, mandelbaum Verlag 2023, 262 Seiten, 18 Euro

Diese Rezension ist erschienen in CONTRASTE Nr. 474 (März 2024).

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